Robert Whitaker

Aus dem Buch Mad in America Kapitel 7.

Neuroleptika wurden in den 1950er Jahren als antischizophrene Mittel rekonzeptualisiert. Deniker, Deley, Lehmann und andere erkannten richtig, dass die Medikamente ihre Wirkung durch Hemmung der Hirnfunktion und nicht durch Normalisierung der Hirnchemie erzielten. Die genaue Art und Weise, in der Neuroleptika diese Wirkung erzielten, wurde 1963 deutlich. In diesem Jahr entdeckte der schwedische Pharmakologe Arvid Carlsson, dass Neuroleptika die Aktivität eines chemischen Vermittlers im Gehirn, des Dopamins, hemmen. Bildgebende Verfahren des Gehirns wie die Positronen-Emissions-Tomographie ermöglichten es dann, den Grad der Hemmung zu quantifizieren. Die elektive Potenz der Standard-Neuroleptika wird durch ihre Affinität zum D2-Rezeptor bestimmt. Nachdem der Wirkungsmechanismus verstanden war, wurde klar, warum Neuroleptika Parkinson-ähnliche Symptome hervorrufen und warum sie eine Art chemische Lobotomie darstellen. Das nigrostriatale System, das mesolimbische System und das mesokortikale System sind die drei wichtigsten dopaminergen Bahnen im Gehirn. Die Parkinson-Krankheit wird durch das Absterben der Neuronen verursacht, die das für die Aktivität der Hirnbahn vom nigrostriatale System notwendige Dopamin produzieren. Die zweite erwähnte Gehirnzone verläuft von einer Region des Mittelhirns, dem so genannten ventralen Tegmenalbereich, zum limbischen Bereich. Das limbische System, das sich in der Nähe der Frontallappen befindet, ist für die Regulierung von Emotionen zuständig, Auch hier wird die Produktion des Dopamins durch die Neuroleptika gehemmt. Diese Blockade des limbischen Systems führt oft zu einem inneren Universum der emotionalen Abkopplung von der Welt. Menschen, die Neuroleptika einnehmen, beklagen sich darüber, dass sie sich wie Zombies fühlen, deren Gefühle „eingepackt“ sind. In einem sehr realen Sinne können sie sich selbst nicht mehr emotional erleben. Das dritte System, das mesokortikale System, verläuft vom ventralen tegmentalen Areal zu den Frontallappen. Durch die Hemmung dieses Weges blockieren Neuroleptika die Kommunikation zwischen diesen beiden Hirnregionen. Bei der chirurgischen Lobotomie wurden ebenfalls die Nervenfasern, die die Frontallappen mit dem Thalamus verbinden, entfernt, einen bestimmten Typ von dopaminergen Rezeptoren. In der therapeutischen Dosis kann ein Neuroleptikum 70 bis 90 % aller D2-Rezeptoren besetzen. Wenn die Rezeptoren so überfüllt sind, kann das Dopamin seine Botschaft nicht richtig an die Zellen weitergeben. Das Kommunikationssystem des Gehirns wird verändert, und alle Nervenfaserbündel, die überwiegend auf D2-Rezeptoren basieren, werden beeinträchtigt. Dies ist der Wirkmechanismus der Standard-Neuroleptika. Die Medikamente verändern das Verhalten und das Denken einer Person, indem sie wichtige dopaminerge Nervenbahnen teilweise unterbrechen.
In alle dtei Fällen, wie Peter Breggin, ein Kritiker von Psychopharmaka, feststellte, ist die Integration zwischen den Funktionen des Frontallappens und anderen Hirnregionen beeinträchtigt. Wie Experimente mit Affen gezeigt haben, funktioniert der präfrontale Kortex nicht richtig, wenn das mesokortikale dopaminerge System beeinträchtigt ist. „Ein Dopaminmangel im präfrontalen Kortex beeinträchtigt die Leistung der Affen bei kognitiven Aufgaben, ähnlich wie eine Ablation des präfrontalen Kortex“, heißt es in Principles of Neuroscience, einem modernen Handbuch der Neurologie4. Die Frontallappen basieren auf Dopamin, und daher bewirken Standard-Neuroleptika durch die teilweise Blockierung dieser chemischen Botenstoffe eine Art pharmakologische Lobotomie. Neuroleptika bewirken also ein „pathologisches“ Defizit in der dopaminergen Übertragung. Sie bewirken, wie Deniker es ausdrückt, einen „therapeutischen Parkinsonismus „5. Und als die Psychopharmaka in der Psychiatrie zum Allgemeingut wurden, war dies die Pathologie, die das Gesicht des Wahnsinns in Amerika prägte. Das Bild, das wir heute von der Schizophrenie haben, ist nicht das des reinen Wahnsinns – was auch immer das heißen mag. Alle Merkmale, die wir mit Schizophrenen in Verbindung bringen – der bizarre Gang, die ruckartigen Armbewegungen, der fehlende Gesichtsausdruck, die Schläfrigkeit, die fehlende Initiative – sind Symptome, die zumindest zum großen Teil auf einen pharmakologisch induzierten dopaminergen Übertragungsmangel zurückzuführen sind. Auch Verhaltensweisen, die das Gegenteil dieses verflachten Bildes zu sein scheinen, wie das bei manchen Schizophrenen beobachtete nervöse Gehen, sind häufig auf Neuroleptika zurückzuführen. Unsere Vorstellungen davon, wie Schizophreniepatienten denken, sich verhalten und auftreten, beziehen sich auf Personen, die durch die Medikamente verändert wurden, und nicht auf den natürlichen Verlauf der Krankheit. Im Jahr 1985 veranschaulichte Alan Lipton, Leiter der New York State Psychiatric Services, wie dieser Prozess der Diagnosefälschung funktioniert. Er überprüfte die Krankenakten von 89 Patienten des Manhattan State Hospital, die als schizophren diagnostiziert worden waren, und entdeckte, dass nur 16 aufgrund ihrer anfänglichen Symptome so hätten eingestuft werden sollen, aber dann hatte der medizinische Prozess das Ruder übernommen: Die düstere, selbstbestimmende prognostische Prophezeiung im Falle der Schizophrenie […] taucht in der Geschichte der meisten unserer Patienten schmerzlich auf. Mit enormer Häufigkeit wird die Diagnose Schizophrenie, wenn sie einmal schriftlich gestellt wurde, unwiderruflich und anscheinend nie wieder in Frage gestellt. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Überdenkens wird auch durch die Wirkung der unvermeidlichen Neuroleptika verringert, die in ausreichender Dosierung verschrieben werden, um die „störenden“ Symptome zu „unterdrücken“. Da manische Störungen symptomatisch auf eine ausreichende Verabreichung von Neuroleptika ansprechen und sogar schwere Depressionen mit oder ohne stimmungskongruente Wahnvorstellungen mit diesen Medikamenten reduziert werden können, wurde eine relativ homogene Population von „behandelten Schizophrenen“ geschaffen. Die anschließende Anpassung dieser Population an soziale und institutionelle Anforderungen verstärkt und verfestigt schließlich ihre Homogenität. Kurz gesagt, die Diagnose hat die Pathologie der „behandelten Schizophrenie“ hervorgebracht.

Nachdem Neuroleptika als „Antischizophrenika“ definiert worden waren, schien das vermeintliche medizinische Referenzmodell recht einfach zu sein. Es gab eine diagnostizierbare Störung, die Schizophrenie, die mit einem bestimmten Medikament wirksam behandelt werden konnte. Die perfekte Korrelation zwischen Diagnose und Medikament war ein Ausdruck des Besten in der Medizin. Eine gut gestellte Diagnose führte zu einer perfekt geeigneten Behandlung. Ungeachtet der Vorzüge von Psychopharmaka konnte dieses Modell nur dann Gültigkeit haben, wenn die amerikanische Psychiatrie in der Lage war, die Störung zuverlässig zu diagnostizieren. In den 1970er Jahren wurde jedoch klar, dass die Psychiatrie nicht in der Lage war, eine solche Diagnose zu stellen, und dass Schizophrenie eine Diagnose war, die keineswegs rigoros auf Menschen mit den unterschiedlichsten emotionalen Problemen angewandt wurde. Es war auch ein Etikett, das am schnellsten den Armen und den Afroamerikanern zugeschrieben wurde. Die Erfindung der Schizophrenie als diagnostischer Begriff lässt sich auf die Arbeit des deutschen Psychiaters Emil Kraepelin zurückführen. Im 19. Jahrhundert hatten die Ärzte eine chaotische Reihe von psychiatrischen Bezeichnungen geprägt. Medizinische Texte sprachen von Krankheiten wie „Jungfernwahn“, „Erotomanie“, „Masturbationspsychose“, „Verelendungswahn“ und „chronische Wahnvorstellungen“. Diese Bezeichnungen entbehren jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und geben auch wenig Aufschluss über die Zukunft der Patienten. Nachdem Kraepelin mehr als zehn Jahre lang die Krankengeschichten von Anstaltspatienten studiert hatte, setzte er dieser chaotischen Praxis ein Ende, indem er eine Klassifizierung entwickelte, die die Symptome mit vorhersehbaren Folgen verknüpfte. Er teilte psychotische Störungen in zwei Hauptgruppen ein. Patienten, die psychotische Episoden im Zusammenhang mit emotionalen Störungen erlebt hatten, litten an einer manisch-depressiven Erkrankung und konnten auf Besserung hoffen. Psychotische Patienten, die einen Mangel an Affektivität oder Emotionen zeigten, litten an Dementia praecox. Das für sie angekündigte Schicksal war viel düsterer: 75 % (oder mehr) hatten das Risiko, in das Endstadium der Demenz zu verfallen. Im Jahr 1908 prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler den Begriff „Schizophrenie“, um die Demenz praecox zu ersetzen. Infolge der Arbeiten von Kraepelin und Bleuler nahmen die Psychiater des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen eine pessimistische Haltung gegenüber ihren schizophrenen Patienten ein. Der erwartete negative Ausgang wurde auch als Rechtfertigung für den Einsatz aggressiver medizinischer Behandlungen herangezogen. Wenn bei den Patienten keine Besserung zu erwarten war, konnten sogar hirnschädigende Behandlungen wie die Lobotomie gerechtfertigt werden. Bei Schizophrenen gab es nicht viel zu verlieren. Wie die englische Historikerin Mary Boyle 1990 überzeugend nachwies, gehörten zu Kraepelins Population psychotischer Patienten zweifellos auch eine Reihe von Menschen mit organischen Gehirnerkrankungen, insbesondere mit lethargischer Enzephalitis.6 Kraepelins Beschreibung der Schizophrenen war nicht nur zufällig. Kraepelins Beschreibung der chronischen Schizophrenen, die sich im Laufe der Zeit verschlechtern und in die Demenz abgleiten, war eigentlich eine Beschreibung von Personen mit Encephalitis lethargica. Im späten 19. Jahrhundert, als Kraepelin seine Pionierarbeit leistete, war Encephalitis lethargica keine bekannte Krankheit. Wer daran litt, wurde in den Kreis der „Verrückten“ verwiesen und in eine Anstalt eingewiesen. Diese Gruppe von Patienten versuchte Kraepelin zu klassifizieren, wobei er einen gemeinsamen Typus von Patienten mit bestimmten körperlichen Symptomen identifizierte, die er der Gruppe der Dementia praecox zuordnete. Zusätzlich zu den geistigen und emotionalen Problemen litten diese Patienten unter Gesichtszuckungen, Muskelkrämpfen und plötzlichen Schläfrigkeitsanfällen. Ihre Pupillen reagierten langsamer auf Licht. Außerdem speichelten sie viel, hatten Schluckbeschwerden, litten unter chronischer Verstopfung und waren nicht in der Lage, freiwillige körperliche Handlungen auszuführen. Diese Patienten schienen an einer globalen Krankheit zu leiden, die die geistige, emotionale und körperliche Sphäre betraf, und waren die Patienten, die am ehesten dement wurden. Kraepelins Arbeit war den Ärzten noch in bester Erinnerung, als im Winter 1916-1917 in Wien und anderen europäischen Städten eine mysteriöse Krankheit ausbrach. Niemand wusste, wie man mit dieser neuen Krankheit umgehen sollte. Die Betroffenen konnten plötzlich Wahnvorstellungen entwickeln, in einen stupiden Zustand verfallen oder sogar ruckartig gehen. Epidemischer Parkinsonismus“, „epidemisches Delirium“ und „epidemische Schizophrenie“ waren einige der Ausdrücke, mit denen dieser Zugang beschrieben wurde, der sich zu einer weltweiten Epidemie entwickelte, die bis 1927 andauerte. Kurze Zeit später löste der österreichische Neurologe Constantin von Economo das Rätsel. Er entdeckte, dass sich im Hirngewebe der verstorbenen Patienten ein Erreger (vermutlich ein Virus) befand, der die Krankheit auf Affen übertragen konnte. Viele Patienten wiesen auch eine besondere Art von Hirnschäden auf, die hauptsächlich im Bereich der Substantia nigra (einem dopaminergen System in den Basalganglien) lokalisiert waren. Er gab dieser Krankheit den Namen „Enzephalitis lethargica „7. Zu dieser Zeit wurde die Krankheit meist als „neu“ angesehen. Die Ärzte sahen sich jedoch bald mit einem schwierigen Dilemma konfrontiert: Wie konnten sie sie sicher von Kraepelins Schizophrenie unterscheiden? Von Economo und Kraepelin hatten die Symptome ihrer Patienten mit sehr ähnlichen Worten beschrieben. Beide litten unter Muskelkrämpfen, einem bizarren Gang und Tics im Gesicht. Beide neigten zu Wahnvorstellungen und konnten in einen tiefen Stupor verfallen. Selbst bei der Autopsie zeigte sich, dass Kraepelins chronische Schizophrene den Patienten von Economos sehr ähnlich waren. Bei mehreren Probanden hatte Kraepelin unter dem Mikroskop schwere neurologische Schädigungen des Gehirns sowie die Vermehrung abnormer Gliazellen beobachtet, die gleiche Art von Schädigung, die von Economo bei seinen eigenen Patienten festgestellt hatte. Trotz der diagnostischen Verwirrung war die europäische Ärzteschaft nach wie vor der Meinung, dass es sich um zwei unterschiedliche Erkrankungen handelte. Die Ärzte beschrieben subtile Merkmale, die zumindest theoretisch zu der einen oder der anderen Diagnose führen konnten. Was jedoch nur wenige bemerkten, war, dass nach dem Verschwinden der Epidemie der Encephalitis lethargica Ende der 1920er Jahre auch die Gruppe der Schizophrenen verschwand, die Teil von Kraepelins Beschreibung der psychotischen Patienten mit wahrscheinlich ungünstigem Ausgang war. Die Unzugänglichen, die katatonisch Stuporösen, die intellektuell Beeinträchtigten“: Diese Arten von schizophrenen Patienten, so Boyle, waren weitgehend verschwunden. Die von Kraepelin beschriebenen körperlichen Symptome wie Pupillenstörungen, enormer Gewichtsverlust oder -zunahme und Tics im Gesicht waren nur noch sehr selten anzutreffen. Heute ist auch klar, dass die Encephalitis lethargica nicht erst 1917 auftrat, sondern schon viel früher. Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Awakenings periodische Epidemien der Schlafkrankheit auf mindestens fünf Jahrhunderte zurückverfolgt. In Italien soll es in den Jahren 1889-1890 eine solche gegeben haben. Leider hat die Psychiatrie Kraepelins Arbeit nie aufgearbeitet. Was hätte der Gelehrte über psychotische Störungen ausgesagt, wenn die an Encephalitis lethargica leidenden Patienten aus der von ihm untersuchten Gruppe von Asylpatienten ausgeschlossen worden wären? Hätte er dann immer noch eine Gruppe gefunden, bei der keine organische Hirnkrankheit bekannt war, die aber im Allgemeinen negative Langzeitfolgen aufwies? War sein Pessimismus gegenüber der Schizophrenie gerechtfertigt? Die Psychiatrie hat sich mit dieser Frage nie beschäftigt. Das Konzept der Schizophrenie war zu wichtig für die medizinische Legitimation des psychiatrischen Berufsstandes. Als Kraepelins verfallene Schizophrene verschwanden, änderte die Psychiatrie lediglich die diagnostischen Kriterien der Störung. Die körperlichen Symptome der Krankheit wurden einfach aufgegeben. Die fettige Haut, der bizarre Gang, die Muskelkrämpfe, die Tics im Gesicht – all diese Symptome verschwanden aus den Diagnosehandbüchern. Was blieb, waren die psychischen Symptome: Halluzinationen, Wahnvorstellungen und bizarre Gedanken. „Die Unterscheidungsmerkmale der Schizophrenie“, so Boyle, „änderten sich allmählich, bis die Diagnose auf eine Population angewandt wurde, die nur noch eine geringe, wenn auch oberflächliche Ähnlichkeit mit der von Kraepelin hatte. So wurde das Konzept der Schizophrenie geboren, das bereits mit diagnostischer Verwirrung belastet war, und hatte sich innerhalb von vierzig Jahren in etwas anderes verwandelt. Anstelle der globalen Krankheit, an der die meisten von Kraepelins Patienten litten, wurde die Schizophrenie zu einer Störung, die vor allem durch das Vorhandensein von Denkstörungen gekennzeichnet war. Einmal so definiert, wurde die Diagnose natürlich problematisch. Wie William Carpenter, ein bedeutender Psychiater an der Universität von Maryland, 1955 feststellte, sind Wahnvorstellungen und Halluzinationen „Verzerrungen und Übertreibungen normaler Funktionen „8. Herr X geht zu seinem üblichen Morgenlauf und phantasiert davon, ein Sportheld zu sein. Ein religiöser Mensch spürt, wie der Körper Christi in seinen Körper eindringt. Ein anderer hört die Stimme Gottes oder eines längst verstorbenen Verwandten. Wann werden solche Stimmen und Gedanken pathologisch und wann sind sie einfach kulturell akzeptierte Produkte der Phantasie? Wie schwierig es ist, diese Grenze zu ziehen, wurde in einer Studie aus den 1970er Jahren mit 463 Bürgern von El Paso, Texas, deutlich gemacht. Die Forscher fanden heraus, dass alle Gedanken, Überzeugungen, Stimmungen und Fantasien hatten, die, wenn sie in einem psychiatrischen Interview isoliert würden, zur Diagnose einer Geisteskrankheit führen würden.Die für eine Schizophrenie-Diagnose erforderlichen Symptome – das Gefühl, besessen zu sein, extreme Paranoia oder der Glaube an besondere Kräfte – wurden von einer ganzen Reihe von Personen „häufig erlebt „9. Ab den 1940er Jahren begannen die Psychiater auch, die Abgrenzung zwischen „normal“ und „abnormal“ radikal zu verändern. Bis dahin wurde nur etwa ein Drittel der Patienten, die in New Yorker psychiatrische Kliniken eingeliefert wurden, als schizophren eingestuft. Der Rest erhielt eine weniger schwerwiegende Diagnose, wie z. B. eine manisch-depressive Erkrankung. Zwei Jahrzehnte später wurde bei mehr als der Hälfte der eingewiesenen Patienten eine Schizophrenie diagnostiziert. Forscher, die die Diagnosepraxis von Psychiatern in New York und London verglichen, stellten fest, dass amerikanische Ärzte routinemäßig die Diagnose Schizophrenie bei Menschen stellten, die korrekterweise als manisch-depressiv oder einfach neurotisch hätten diagnostiziert werden müssen. In einem Experiment, bei dem ein Video eines launischen und sozial unzulänglichen 30-jährigen Junggesellen gezeigt wurde, stellten 69 % der amerikanischen Psychiater die Diagnose Schizophrenie, während nur 2 % der britischen Psychiater dasselbe taten. „Zumindest in den Augen eines außenstehenden Beobachters“, schlussfolgerte ein britischer Psychiater 1971, „wird die Diagnose an der Ostküste der Vereinigten Staaten so beiläufig gestellt, dass sie viel von ihrer ursprünglichen Bedeutung verliert. Dieser lockere Umgang mit der Diagnose in den Vereinigten Staaten war zumindest teilweise auf die zugrunde liegenden politischen und sozialen Spannungen zurückzuführen.

In den 1950er Jahren führte der Kalte Krieg – in dem die Vereinigten Staaten mehr als andere europäische Staaten gegen die Sowjetunion kämpften – zu einer relativen Intoleranz gegenüber unangepasstem Verhalten, und dieses Jahrzehnt läutete die Jahre des sozialen Protests ein. Es kam zu einem Zusammenprall der Kulturen, und als dies geschah, begannen amerikanische Psychiater noch schneller als zuvor, eine Person als „schizophren“ zu diagnostizieren. Zu den „Symptomen“ von Jonika Upton gehörte, dass sie Proust unter dem Arm trug und mit einem Jungen durchbrannte, den ihre Eltern verdächtigten, homosexuell zu sein. Leonard Roy Frank, ein bekannter antipsychiatrischer Protestführer der 1970er Jahre, wurde 1962 als paranoid schizophren diagnostiziert, als er seine Arbeit als Immobilienmakler aufgab und zum Außenseiter wurde – er ließ sich einen Bart wachsen, wurde Vegetarier und begann, religiöse Bücher zu lesen. All diese Aspekte wurden in seiner Krankenakte als Symptome seiner Schizophrenie aufgeführt (er lebte angeblich das „Leben eines Beatniks“), und als „therapeutische Maßnahme“ hatten ihm seine Ärzte den Bart zwangsweise abrasiert.11 In zahlreichen Studien wurde dokumentiert, dass amerikanische Psychiater besonders anfällig für diese Diagnose waren. Ein Forscher, der 1982 die Krankenakten des Manhattan State Hospital analysierte, stellte fest, dass 80 % der „schizophrenen“ Patienten nie die für die Diagnose erforderlichen Symptome aufwiesen. Landesweit schätzte man 1978, dass dieser Diagnosefehler in über 100.000 Fällen aufgetreten war. „Die psychiatrische Diagnose“, so warf der kanadische Psychiater Heinz Lehmann seinen amerikanischen Kollegen vor, „hat sich heute vielerorts von einem nützlichen und präzisen Instrument in ein oberflächliches, wenig überzeugendes, schlecht geregeltes und daher oft nutzloses Verfahren verwandelt.“ 1973 hat David Rosenhan, Psychologieprofessor an der Stanford University, Lehmanns Behauptung eindrucksvoll bewiesen. Er und sieben andere „normale“ Menschen stellten sich in zwölf verschiedenen psychiatrischen Kliniken vor (einige in mehr als einer Klinik) und klagten über das Hören von Stimmen unbekannter Natur, die Dinge wie „dumpf“, „leer“ oder „falsch“ sagten. Dies waren die einzigen erfundenen Symptome, die sie angaben. Ansonsten verhielten sie sich ruhig und beschrieben ihre Beziehungen zu Freunden und Familie so, wie sie in Wirklichkeit waren. In allen Fällen wurden die Pseudopatienten in ein Krankenhaus eingewiesen, und in allen bis auf einen Fall wurde bei ihnen eine schizophrene Erkrankung diagnostiziert. Nach der Einweisung berichteten sie keine Symptome mehr. Sie begannen sogar, sich offen Notizen in ihren Notizbüchern zu machen und sich wie die gebildeten Beobachter zu verhalten, die sie waren. Dennoch wurden sie von keinem der Krankenhausmitarbeiter jemals als Hochstapler identifiziert. Die acht Pseudo-Patienten erhielten 2.100 Neuroleptika-Tabletten (die sie versteckten oder die Toilette hinunterspülten, wie es auch viele echte Patienten taten). Die einzigen im Krankenhaus, die nicht in die Falle tappten, waren die „echten“ Patienten. „Ihr seid nicht verrückt“, sagten sie den Pseudo-Patienten. „Ihr seid Journalisten oder Professoren (in Anspielung auf ihre Notizen). Ihr überprüft, wie die Dinge im Krankenhaus laufen“. Rosenhan und seine Kollegen verstanden auch, was es bedeutete, in den Augen anderer ein Schizophrener zu sein. Ärzte und Krankenschwestern nahmen sich kaum Zeit für sie, wichen ihren Blicken aus und reagierten nicht einmal auf die einfachsten Fragen vernünftig. Oft wurden die Patienten morgens von Pflegern geweckt, die riefen: „Beeilt euch, ihr Hurensöhne, raus aus dem Bett“. Rosenhan wiederholte das Experiment in umgekehrter Richtung. Er informierte ein angesehenes Universitätskrankenhaus darüber, dass irgendwann in den nächsten drei Monaten ein Pseudo-Patient die Aufnahme in eine psychiatrische Abteilung beantragen würde. In den folgenden neunzig Tagen nahm das Universitätskrankenhaus 193 psychiatrische Patienten auf, von denen 41 von mindestens einem Mitarbeiter als Rosenhans möglicher Hochstapler identifiziert wurden. In Wirklichkeit hatte kein Pseudopatient versucht, aufgenommen zu werden. „Der springende Punkt ist, dass wir seit langem wissen, dass Diagnosen oft nutzlos oder unzuverlässig sind, aber dennoch verwenden wir sie weiterhin“, schrieb Rosenhan in Science. „Wir wissen jetzt, dass wir nicht in der Lage sind, Wahnsinn von Normalität zu unterscheiden. „13 Rosenhans Studie bewies gewissermaßen, dass die amerikanische Psychiatrie ein „nackter König“ war. Sie war der Beweis dafür, dass die Diagnose Schizophrenie willkürlich und oberflächlich gestellt wurde. Und als ob dies noch nicht genug wäre, zeigte eine Reihe von Studien, wie bereits erwähnt, dass amerikanische Ärzte dieses diagnostische Etikett bevorzugt auf Schwarze und Arme anwendeten. Die Diagnose von Geisteskrankheiten bei Afroamerikanern hat eine unrühmliche Geschichte. Im 19. Jahrhundert war die wahrgenommene psychische Gesundheit von Afroamerikanern eng mit ihrem rechtlichen Status als Sklaven oder Freie verknüpft. Diejenigen, die in den freien Staaten lebten, oder Sklaven, die öffentlich den Wunsch äußerten, frei zu sein, waren besonders gefährdet, als geisteskrank eingestuft zu werden. Laut der US-Volkszählung von 1840 war Geisteskrankheit bei Schwarzen im Norden elfmal häufiger als im Süden. Diese Statistik beruhte zum Teil auf der Tatsache, dass die Weißen in einigen Nordstaaten den Volkszählungsbeamten berichtet hatten, dass alle Schwarzen in ihren Gemeinden geisteskrank seien. Es wurde bald klar, dass das Verhältnis von 11:1 lächerlich war, aber nicht bevor Politiker aus dem Süden dies als Beweis dafür ausnutzten, dass die Sklaverei eine gute Sache für Schwarze war. „Hier ist der Beweis für die Notwendigkeit der Sklaverei“, argumentierte Senator John Calhoun. „Afrikaner sind nicht in der Lage, sich selbst zu heilen und versinken unter der Last der Freiheit im Wahnsinn. Es ist ein Zeichen der Barmherzigkeit, ihnen Verteidigung und Schutz vor dem geistigen Tod zu geben „14. Im Jahr 1851 führte ein angesehener Arzt aus den Südstaaten, Samuel Cartwright, dieses Argument weiter aus. In der Zeitschrift New Orleans Medical and Surgical Journal schrieb er, er habe zwei neue Arten von Wahnsinn bei Sklaven festgestellt. Die eine war die Drapetomanie*, die diagnostiziert werden musste, wenn ein „Neger“ zu fliehen versuchte. Er argumentierte, dass die Sklavenhalter diese Geisteskrankheit verursachten, weil sie „ihre Neger […] zu freundlich behandelten“, was die armen Schwarzen verwirrte, denen Gott eine natürliche „Neigung zur Unterwerfung und Verbeugung“ gegeben hatte, die sich zudem in der außergewöhnlichen Beweglichkeit ihrer Knie zeigte. Die andere Geisteskrankheit, die er entdeckte, war die äthiopische Dysästhesie, die durch Lustlosigkeit und mangelnden Respekt vor dem Eigentum des Herrn gekennzeichnet war. Cartwright schlug vor, dass leichte Schläge und harte Arbeit diese Geisteskrankheit wirksam heilen könnten, da eine solche Medizin einen „perfekten Schurken“ in „einen guten Neger, der den Boden hackt oder pflügt „15 , verwandeln könne. Nach dem Ende des Bürgerkriegs sahen sich die von den Fesseln der Sklaverei befreiten Schwarzen des Südens erneut der Gefahr ausgesetzt, in Irrenanstalten zu landen. Das Bild der Vernunft der Schwarzen wurde immer noch damit verbunden, wie der Herr sie haben wollte: gefügige und ungezähmte Arbeiter, die ihm den nötigen Respekt entgegenbrachten. Schwarze, die zu sehr von dieser Verhaltensnorm abwichen, waren Kandidaten, die für unzurechnungsfähig erklärt und in Irrenanstalten, Gefängnissen und Armenhäusern eingesperrt wurden. Auf nationaler Ebene stieg die Zahl der „Geisteskrankheiten“ unter Schwarzen zwischen 1860 und 1880 um das Fünffache, und auch diese Statistiken wurden von vielen Ärzten der Südstaaten als Beweis dafür angesehen, dass die „farbige Ethnie“ einfach nicht in der Lage war, mit der Freiheit umzugehen. Schwarze, so erklärte der Arzt der Irrenanstalt von Mississippi, J.M. Buchanan, 1886, besitzen biologisch gesehen nicht die intellektuellen Fähigkeiten, um in einem zivilisierten Land zu leben, weil „das Wachstum des Gehirns [der Schwarzen] durch den vorzeitigen Verschluss der Schädelnähte gehemmt wird“. Als Sklave, so fügte er hinzu, könne der „kindische Neger“ das Leben „fett, glücklich und zufrieden“ genießen, da sein Geist frei von Sorgen sei und „die tierischen Leidenschaften und Instinkte durch den Willen seines Herrn ruhig gehalten werden“. Fünfunddreißig Jahre später griff W.M. Bevis, Arzt am St. Elizabeth’s Hospital in Washington, D.C., diese Theorie wieder auf.diese Theorie im American Journal of Psychiatry wieder auf. Schwarze seien besonders anfällig für psychotische Störungen, schrieb er, weil sie „von Wilden und Kannibalen“ abstammten und daher als freie Männer in Amerika in „einer hochzivilisierten Umgebung lebten, auf die die biologische Entwicklung der Ethnie nicht angemessen vorbereitet war“. All dies veranlasste einen afroamerikanischen Wissenschaftler, E. Franklin Frazier, 1927 zu dem Vorschlag, dass Weiße, die rassistische Vorurteile hegten und grausam gegen Schwarze vorgingen (Bandengewalt, Lynchmorde usw.), vielleicht als geisteskrank betrachtet werden sollten, eine Position, die ihn seine Entlassung von seinem Posten als Direktor der Atlanta University School of Social Work kostete. Seine Haltung erregte einen solchen Zorn, dass Frazier, der sich zur Selbstverteidigung mit einer Pistole bewaffnet hatte, nachts aus der Stadt floh17. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Schwarze in die Kategorie der Schizophrenen und nicht in die der Manisch-Depressiven oder Involutionär-Melancholischen eingeordnet, was auch auf die kulturelle Überzeugung zurückzuführen war, dass es sich bei ihnen um einfache Seelen handelte, die nicht die Intelligenz besaßen, sich um die Probleme des Lebens zu kümmern. Sie könnten in ihrem Denken manisch oder wahnsinnig sein, aber – so hieß es – es sei unwahrscheinlich, dass sich daraus eine echte Pathologie entwickelt. „Depressionen in ihren verschiedenen Formen sind bei Schwarzen selten“, erklärte Mary O’Malley, Ärztin am St. Elizabeth’s Hospital. „Diese Menschen reagieren nicht auf die intensivsten Emotionen – Kummer, Gewissensbisse usw. – weil sie keine strengen moralischen Maßstäbe anlegen und keine Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen nehmen. Obwohl dieses Stereotyp der einfachen Seele in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vielleicht nicht mehr so weit verbreitet war, wurden Schwarze weiterhin bevorzugt in die Kategorie der Schizophrenen aufgenommen. Eine 1982 durchgeführte Studie mit 1 023 Afroamerikanern, die als schizophren eingestuft wurden, ergab, dass 64 % nicht die Symptome aufwiesen, die nach den Richtlinien der American Psychiatric Association (APA) für die Diagnose erforderlich waren. Andere Studien ergaben, dass Schwarze bevorzugt in Unterkategorien der Schizophrenie eingeteilt wurden, die sich durch Gefährlichkeit und (pathologischen) Schweregrad auszeichnen, und dass sie häufiger als Weiße gegen ihren Willen in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wurden. Ein Experiment der beiden Soziologen Marti Loring und Brian Powell von der Universität Indiana aus dem Jahr 1988 zeigte, wie tief dieses Vorurteil verwurzelt ist. Sie ließen 290 Psychiater klinische Berichte überprüfen, in denen die Patienten abwechselnd als weiße Männer, weiße Frauen, schwarze Männer und schwarze Frauen beschrieben wurden (die anderen Angaben waren gleich). Die Diagnosen der Psychiater wiesen je nach Ethnie und Geschlecht deutliche Unterschiede auf: bei schwarzen Männern waren sie schwerer, bei weißen Männern weniger schwerwiegend. Loring und Powell kommentierten: „Kliniker scheinen schwarzen Patienten Gewalttätigkeit, Misstrauen und Gefährlichkeit zuzuschreiben, obwohl die medizinischen Unterlagen die gleichen sind wie bei weißen Patienten „19. Die Überrepräsentation der Armen unter den „Geisteskranken“ hat eine lange Geschichte in der amerikanischen Psychiatrie. Die überfüllten Anstalten des 19. Jahrhunderts dienten weitgehend als Armenanstalten. Sie waren vollgestopft mit sozial Behinderten, chronisch Kranken und psychisch Gestörten – „Wahnsinn“ war einfach ein Begriff für diese Gruppe unterschiedlicher Menschen. Eines hatten fast alle Patienten in den staatlichen Anstalten gemeinsam: die Armut. Edward Jarvis errechnete in seinem Bericht von 1855 über den Wahnsinn in Massachusetts, dass dieser unter den Mittellosen 64 Mal häufiger vorkam als in der übrigen Bevölkerung.20 Hundertdreißig Jahre später stellten Epidemiologen fest, dass der Zusammenhang mit der Armut immer noch besteht: Menschen im untersten Viertel der sozioökonomischen Skala hatten ein fast achtmal höheres Risiko, als schizophren diagnostiziert zu werden, als Menschen im obersten Viertel.21 Auch die Verhaltensweisen und Emotionen, die zu Schizophrenie führten, waren unter den Armen häufiger anzutreffen. Die Verhaltensweisen und Emotionen, die zur Diagnose Schizophrenie führten – Feindseligkeit, Wut, emotionaler Rückzug, Paranoia – gingen Hand in Hand mit Armut. All dies – das Rosenhan-Experiment, die unterschiedlichen Diagnosepraktiken britischer und amerikanischer Ärzte, die bevorzugte Etikettierung von Schwarzen und Armen – führt uns zu einer unvermeidlichen Schlussfolgerung. Wie wir schon oft festgestellt haben, beginnt eine gute medizinische Praxis mit einer genauen Diagnose. Doch in den 1960er und 1970er Jahren wurde in der amerikanischen Psychiatrie etwas Ähnliches in umgekehrter Richtung zur Norm. Menschen mit den unterschiedlichsten Verhaltens- und Gefühlsproblemen – ängstliche, pathologisch depressive, feindselige Menschen oder solche mit bizarren Überzeugungen und Gedanken – wurden routinemäßig in eine einzige Diagnoseklasse, die Schizophrenie, eingeteilt und folglich mit Neuroleptika behandelt. Zu diesem Zeitpunkt wurden ihr Verhalten und die zugrunde liegende Gehirnchemie immer ähnlicher. Nun zeigten sie alle Anzeichen eines pharmakologisch induzierten Mangels an Dopaminübertragung. Und mit dem Etikett der Schizophrenie auf den Lippen behandelten andere sie auf eine Art und Weise – „Beeilt euch, ihr Hurensöhne, raus aus dem Bett“ -, die ihren neuen klinischen Zustand bestätigte. Die amerikanische Medizin hatte im Grunde ein Verfahren entwickelt, um aus einer Gruppe problematischer Menschen Schizophrene zu „fabrizieren“, wobei Schwarze und Arme das größte Risiko darstellten. 1985 veranschaulichte Alan Lipton, Leiter der psychiatrischen Dienste des Staates New York, wie dieser Prozess der Diagnosefabrikation funktionierte. Er überprüfte die Krankenakten von 89 Patienten des Manhattan State Hospital, die als schizophren diagnostiziert worden waren, und stellte fest, dass nur 16 aufgrund ihrer anfänglichen Symptome so hätten eingestuft werden müssen, dann aber der medizinische Prozess die Oberhand gewonnen hatte: Die düstere, selbstbestimmende prognostische Prophezeiung im Falle der Schizophrenie […] taucht in der Geschichte der meisten unserer Patienten schmerzlich auf. Mit enormer Häufigkeit wird die Diagnose Schizophrenie, wenn sie einmal schriftlich gestellt wurde, unwiderruflich und anscheinend nie wieder in Frage gestellt. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Überdenkens wird auch durch die Wirkung der unvermeidlichen Neuroleptika verringert, die in ausreichender Dosierung verschrieben werden, um die „störenden“ Symptome zu „unterdrücken“. Da manische Störungen auf eine ausreichende Verabreichung von Neuroleptika symptomatisch ansprechen und sogar schwere Depressionen mit oder ohne stimmungskongruente Wahnvorstellungen mit diesen Medikamenten reduziert werden können, wurde eine relativ homogene Population von „behandelten Schizophrenen“ geschaffen. Die anschließende Anpassung dieser Population an soziale und institutionelle Anforderungen verstärkt und verfestigt schließlich ihre Homogenität22. Kurz gesagt, die Diagnose hat die Pathologie der „behandelten Schizophrenie“ hervorgebracht. Betrachtet man die frühen Arbeiten von Kraepelin, so kann man auch die zu erwartenden Ergebnisse für diese medikamentös veränderten Patienten vorhersagen. Dieselben Symptome, die zu Kraepelins Zeiten die schlechtesten Ergebnisse bei psychotischen Patienten voraussagten – bizarrer Gang, Muskelkrämpfe, extreme Lethargie und Gesichtszuckungen – traten bei der schizophrenen Bevölkerung wieder auf, als die Neuroleptika eingeführt wurden. Die lethargische Enzephalitis schädigt die dopaminergen Systeme des Gehirns. Neuroleptika haben durch die teilweise Unterbindung der dopaminergen Übertragung eine ähnliche organische Pathologie hervorgerufen. Die moderne Medizin erweckte genau die Gruppe von Psychosepatienten wieder zum Leben, die Kraepelin als diejenige identifiziert hatte, die am ehesten dazu neigte, chronisch und dement zu werden.

Arnold

Neuroleptika, die das dopaminerge System unterdrücken, führen sofort zu einer pathologischen Hirnfunktion. Im Jahr 1959 erschien in der Literatur eine Fallbeschreibung, die darauf hindeutete, dass diese Medikamente dauerhafte Hirnschäden verursachen könnten; und in der Tat blieb diese motorische Dysfunktion bestehen, auch wenn sie abgesetzt wurden. Im selben Jahr berichteten französische Psychiater von einer bizarren Symptomatik, die später als „tardive Dyskinesie“ (DT) bezeichnet wurde: „Die Zunge [wird] ständig in rascher Folge vor- und zurückgeschleudert; manchmal wird sie zur Seite, manchmal nach rechts, manchmal nach links geschleudert […] die Lippen nehmen an dieser Dyskinesie teil, mit stereotypen Bewegungen des Saugens, Kräuselns, Rollens und unaufhörlichen Kauens, synergetisch mit den rhythmischen Kontraktionen des Unterkiefers. Diese Beschreibung wies eindeutig darauf hin, dass im Gehirnzentrum, das für die Steuerung der Bewegungen zuständig ist, etwas Gravierendes passiert war. Bald stellte sich heraus, dass diese Störung nicht nur die Gesichtsmuskeln betraf. Die Patienten zeigten verschiedene Arten von spastischen und ruckartigen Bewegungen. Die Arme, Knöchel, Finger und Zehen, der Rumpf, der Hals und der Kehlkopf – all diese Organe konnten betroffen sein. Einige Patienten hatten Schwierigkeiten beim Gehen, Sitzen oder Stehen. Manchmal wurde ihre Sprache unverständlich, und sie hatten so starke Schluckbeschwerden, dass sogar das Essen zu einem Problem wurde. In ihrer schwersten Form, so stellte der NIMH-Arzt George Crane fest, ähnelte die DT „in jeder Hinsicht bekannten neurologischen Störungen wie der Huntington-Krankheit, der Dystonia musculorum deformans und post-encephalitischen Hirnschäden“. Es wurde festgestellt, dass DT bei 5 % der Patienten innerhalb eines Jahres nach Beginn der Neuroleptika-Behandlung auftrat, und der Prozentsatz stieg mit jedem weiteren Jahr der Medikamenteneinnahme um weitere 5 % an46. Obwohl DT in erster Linie als motorische Störung angesehen wurde, sind dopaminerge Systeme auch an intellektuellen und verhaltensbezogenen Funktionen beteiligt, so dass Patienten mit tardiver Dyskinesie erwartungsgemäß häufig auch in diesen Bereichen Beeinträchtigungen aufweisen. Viele DT-Patienten zeigten zunehmende Beeinträchtigungen in den Bereichen Lernen, Gedächtnis und anderen intellektuellen Funktionen. Diese Defizite wurden in mehr als zwanzig Studien dokumentiert. In einer davon waren sich 44 Prozent der Patienten mit tardiver Dyskinesie nicht einmal ihrer motorischen Funktionsstörung bewusst, was darauf hindeutet, dass sie die geistige Fähigkeit verloren hatten, ihre körperliche Gesundheit zu überwachen. Wie ein Forscher feststellte, könnten die bizarren Zungenbewegungen, die für die tardive Dyskinesie charakteristisch sind, ein Zeichen für eine „embryonale Demenz „47 sein. Die dieser Hirnfunktionsstörung zugrunde liegende Neuropathologie ist noch nicht vollständig geklärt. Wie die Forschung zeigt, verursachen Neuroleptika eine verwirrende Reihe von pathologischen Gehirnveränderungen. Eine Hypothese besagt, dass die Medikamente die Basalganglien direkt schädigen. Bei Ratten haben Neuroleptika nachweislich zu einem Zellverlust in dieser Hirnregion geführt. In Autopsie- und MRT-Studien wurden bei einigen DT-Patienten ebenfalls Läsionen der Basalganglien festgestellt, was Forscher dazu veranlasst hat, DT mit den degenerativen Prozessen zu vergleichen, die für Parkinson- und Huntington-Krankheiten charakteristisch sind. Harvard-Wissenschaftler haben spekuliert, dass Neuroleptika die Neuronen schädigen, weil sie „den oxidativen Stress erhöhen „48. Andere Forscher vermuten, dass DT darauf zurückzuführen ist, dass das Gehirn überempfindlich gegenüber Dopamin wird. Bildgebende Studien ergaben, dass die Einnahme von Neuroleptika mit einer Hypertrophie des Thalamus und der Basalganglien (Nucleus caudatus, Putamen und Globe pallidum) einhergeht, und es wird angenommen, dass diese pathologische Vergrößerung auf eine Zunahme der Dopaminrezeptoren zurückzuführen ist. Einer Studie der University of Pennsylvania zufolge ist diese Hypertrophie nicht nur eine mögliche Ursache für DT, sondern geht auch mit einem erhöhten Schweregrad sowohl negativer als auch positiver Symptome“ einher. Im Wesentlichen lieferte diese Studie direkte, greifbare Beweise für medikamenteninduzierte Hirnveränderungen, die dazu führen, dass Patienten stärker psychotisch und emotional dysfunktional werden49. Und die drogeninduzierte Pathologie ist noch nicht zu Ende. Andere MRT-Studien haben ergeben, dass die Einnahme von Neuroleptika mit einer Verschmälerung des Frontal- und Temporallappens einhergeht und dass das Risiko einer Frontalatrophie pro 10 Gramm eingenommener Neuroleptika um 6,5 % steigt. Diese neurodegenerativen Prozesse wurden auch mit der Dosierung von Neuroleptika in Verbindung gebracht, und zwar in dem Sinne, dass höhere Dosen das Auftreten von neurodegenerativen Hirnschäden beschleunigen50. Ein letztes Risiko im Zusammenhang mit Neuroleptika ist der vorzeitige Tod. Dies ist nicht Gegenstand vieler Studien, aber es ist bekannt, dass Patienten, die Neuroleptika einnehmen, im Allgemeinen einen schlechten Gesundheitszustand haben. Die mit Neuroleptika verbundene Gewichtszunahme erhöht das Risiko von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Fast 90 % der Patienten, die mit Neuroleptika behandelt werden, sind auch Raucher, und es wurde die Hypothese aufgestellt, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass Nikotin den Blutspiegel von Neuroleptika senkt und gleichzeitig die dopaminerge Aktivität im Gehirn erhöht, wodurch einige der negativen Auswirkungen der Medikamente abgeschwächt werden. Allerdings erhöht das Rauchen das Risiko, an Krebs, Atemwegserkrankungen und Herzinfarkt zu sterben. Die Forscher stellten auch eine höhere Sterblichkeitsrate bei Patienten mit Spätdyskinesien und bei denjenigen fest, die zwei oder mehr Neuroleptika einnahmen, eine gängige Praxis51. Kurz gesagt, Neuroleptika haben im Laufe der Zeit ziemlich starke Auswirkungen auf die Patienten. Ihre unmittelbaren Auswirkungen, die auf die teilweise Blockade der dopaminergen Bahnen im Gehirn zurückzuführen sind, bestehen in einer Abstumpfung der Gefühle und einer Verlangsamung der Motorik. In kurzer Zeit kompensiert das Gehirn diese iatrogene Pathologie, indem es empfindlicher für Dopamin wird, was die Betroffenen biologisch anfälliger für Psychosen und anfälliger für Rückfälle macht. Bei starken Medikamenten wie Prolixin und Haldol werden die Patienten häufig von innerer Unruhe und motorischer Erregung geplagt, die sie manchmal zu aggressivem und kriminellem Verhalten treiben. Diejenigen, die mit Neuroleptika eine Stabilisierung erreichen, ziehen sich sozial zurück und ziehen sich zurück. Schließlich scheinen die Patienten auch verschiedene Arten von Hirnschäden zu erleiden – die Basalganglien können an Volumen zunehmen, während die Frontallappen schrumpfen -, was mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu einer umfassenderen Funktionsstörung führt, die sich in den Muskelkrämpfen zeigt, die bei tardiver Dyskinesie häufig auftreten. Auch die körperliche Gesundheit des Betroffenen verschlechtert sich, wodurch die Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes steigt. In jeder Hinsicht war die „behandelte Schizophrenie“ kein harmloses Schicksal. * 1991 stellten Forscher fest, dass ein Gift namens MPTP, das in einer Charge kontaminierten Heroins entdeckt worden war (Süchtige, die es injizierten, wurden sofort gelähmt), drei Neuroleptika sehr ähnlich war: Haloperidol, Chlorpromazin und Thiothixen. MPTP wurde später zur Erforschung der Parkinson-Krankheit bei Tieren eingesetzt; auch Haloperidol wurde bei dieser Forschung verwendet. * Die Etymologie des Begriffs stammt aus dem Griechischen: drapetes (einer, der flieht) und mania (Wahnsinn). Der Begriff würde also auf eine Geisteskrankheit hinweisen, die schwarze Sklaven zur Flucht veranlasst. [* In Studien zur Behandlung von Schizophrenie wurde der Rückfall regelmäßig als Ergebnisgröße verwendet. Es war jedoch nicht genau definiert, was mit Rückfall gemeint war. Einige Forscher verwendeten eine erneute Hospitalisierung als Kriterium für einen Rückfall. Andere definierten ihn einfach als ein bestimmtes Maß an Verschlechterung – eine Zunahme psychotischer Gedanken oder unruhigen Verhaltens. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies kein strenger Begriff. * 1995 beschrieb Peter Weiden, Psychiater am St. Luke’s-Roosevelt Hospital in New York City, wie sich dies in der „realen“ Welt auswirkt. Achtzig Prozent der schizophrenen Patienten, die mit Standard-Neuroleptika behandelt wurden, erlitten innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Entlassung einen Rückfall, und die meisten von ihnen wurden rückfällig, obwohl sie die Medikamente regelmäßig einnahmen. Die American Psychiatric Association beschrieb diese häufige Abwärtsspirale, die zur Chronifizierung führt, sogar in ihrem statistisch-diagnostischen Handbuch von 1980: „Der häufigste Verlauf [der Schizophrenie] ist der einer Reihe von akuten Exazerbationen mit zunehmenden Restdefiziten zwischen den Episoden. […] Eine vollständige Rückkehr zur Funktionsfähigkeit vor der Erkrankung ist so selten, dass einige Kliniker die Diagnose in Frage stellen würden“. Diese düstere Prognose spiegelt nicht die Bandbreite des natürlichen Verlaufs der Schizophrenie wider, sondern beschreibt vielmehr die Ergebnisse, die durch Neuroleptika beeinflusst werden. Siehe P. Weiden, The Cost of Relapse in Schizophrenia, in Schizophrenia Bulletin, 21, 1995, S. 419-428; APA, DSM-III. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (1980), Masson, Mailand 1983, S. 205. * Der Umstand, dass Patienten, die die Einnahme von Neuroleptika abrupt beenden, eine intensivere Psychose entwickeln können, als dies normalerweise der Fall wäre, ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Einnahme von Neuroleptika die Gewaltbereitschaft psychisch Kranker erhöhen kann. In den letzten Jahren wurden mehrere schwere Morde von Personen begangen, die sich in einem solchen medikamentösen Zustand befanden.Erst kürzlich berichtete „Newsweek“, dass Andrea Yates, die Frau aus Houston, die ihre fünf Kinder ermordet hat, diese Tat beging, nachdem „ihr das starke Antipsychotikum Haldol abgesetzt wurde“. Diese Fälle von gewaltsamen Morden werden jedoch unweigerlich als Beweis dafür angeführt, dass psychisch Kranke ständig mit Medikamenten behandelt werden müssen, und nicht als Beispiele für die Gefahren der Medikamente selbst. Die Schuld wird den Patienten und ihrer „Krankheit“ zugeschoben, nicht den Medikamenten.

Anmerkungen

1 | J. Chamberlin, On Our Own, McGraw-Hill, 1978, S. 52.↵ 2 | L. Farde, Positron Emission Tomography Analysis of Central D1 and D2 Dopamine Receptor Occupancy in Patients Treated with Classical Neuroleptics and Clozapine, in „Archives of General Psychiatry“, 49, 1992, S. 538-544. Siehe auch G.P. Reynolds, Antipsychotic Drug Mechanisms and Neurotransmitter Systems in Schizophrenia, in „Acta Psychiatrica Scandinavica“, 89, Suppl. 380, 1994, S. 36-40.↵ 3 | P. Breggin, Toxic Psychiatry, St. Martin’s Press, 1991, S. 56.↵ 4 | E. Kandel et al, Principles of Neuroscience (1981), Casa editrice ambrosiana, Rozzano 1988, S. 863 (modifizierte Übersetzung, Hrsg.).↵ 5 | P. Deniker, From Chlorpromazine to Tardive Dyskinesia: Brief History of the Neuroleptics, in „Psychiatric Journal of the University of Ottawa“, 14, 1989, S. 253-259.↵ 6 | M. Boyle, Is Schizophrenia What Was It? A Re-Analysis of Kraepelin’s and Blueler’s Population, in Journal of the History of the Behavioral Sciences, 26, 1990, S. 323-333. Siehe auch M. Boyle, Schizophrenia: A Scientific Delusion?, Routledge, 1990.↵ 7 | O. Sacks, Awakenings (1973), Adelphi, Mailand 1987, S. 51-60.↵ 8 | W. Carpenter, Treatment of Negative Symptoms, in „Schizophrenia Bulletin“, 11, 1985, S. 440-449.↵ 9 | J. Mirowsky, Subjective Boundaries and Combinations in Psychiatric Diagnoses, in „Journal of Mind and Behavior“, 11, 1990, S. 407-424.↵ 10 | R.E. Kendell et al, Diagnostic Criteria of American and British Psychiatrists, in „Archives of General Psychiatry“, 25, 1971, S. 123-130.↵ 11 | Zitiert in S. Farber, Madness, Heresy, and the Rumor of Angels, Open Court, 1993, S. 190-240.↵ 12 | A. Lipton, Psychiatric Diagnosis in a State Hospital: Manhattan State Revisited, in: Hospital and Community Psychiatry, 36, 1985, S. 368-373; H. Lehmann, Discussion: A Renaissance of Psychiatric Diagnosis?, in „American Journal of Psychiatry“, 125, Suppl. 10, 1969, S. 43-46.↵ 13 | D.L. Rosenhan, On Being Sane in Insane Places, in „Science“, 179, 1973, S. 250-258.↵ 14 | Zitiert in H. Kutchins, S. Kirk, They Make Us Look Like Fools. Il DSM: la bibbia della psichiatria e la creazione dei disturbi mentali (1997), Fioriti, Roma 2003, S. 215.↵ 15 | S. Cartwright, Report on the Diseases and Physical Peculiarities of the Negro Race, in „New Orleans Medical and Surgical Journal“, 7, 1851, S. 691-715.↵ 16 | J. M. Buchanan, Insanity in the Colored Race, in „New York Medical Journal“, 44, 1886, S. 67-70.↵ 17 | W.M. Bevis, The Psychological Traits of the Southern Negro with Observations as to Some of His Psychoses, in „American Journal of Psychiatry“, 1, 1921, S. 69-78. Fraziers Geschichte ist nachzulesen in H. Kutchins, S. Kirk, They make us out to be mad cit.↵ 18 | M. O’Malley, Psychoses in the Colored Race, in „American Journal of Insanity“, 71, 1914, pp. 309-337.↵ 19 | M. Loring, Gender, Race, and DSM-III: A Study of the Objectivity of Psychiatric Diagnostic Behavior, in „Journal of Health and Social Behavior“, 29, 1988, pp. 1-22.↵ 20 | E. Jarvis, Insanity and Idiocy in Massachusetts: Report of the Commission on Lunacy, 1855, Harvard University Press, 1971, S. 53.↵ 21 | C.E. Holzer, The Increased Risk for Specific Psychiatric Disorders Among Persons of Low Socioeconomic Status, in „American Journal of Social Psychiatry“, 6, 1986, S. 259-271.↵ 22 | A. Lipton, Psychiatric Diagnosis in a State Hospital cit., S. 371.↵ 23 | T. van Putten, Why Do Schizophrenic Patients Refuse to Take Their Drugs?, in „Archives of General Psychiatry“, 31, 1974, S. 67-72; Id, Drug Refusal in Schizophrenia and the Wish to Be Crazy, in „Archives of General Psychiatry“, 33, 1976, S. 1443-1446; Id., Response to Antipsychotic Medication: The Doctor’s and the Consumer’s View, in „American Journal of Psychiatry“, 141, 1984, S. 16-19. Vgl. auch E.B. Larsen, Subjective Experience of Treatment, Side Effects, Mental State and Quality of Life in Chronic Schizophrenics, in „Acta Psychiatrica Scandinavica“, 93, 1996, S. 381-388.↵ 24 | J. Gotkin, Too Much Anger, Too Many Tears, Quadrangle-The New York Times Book Co, 1975, S. 385; das längere Zitat stammt aus Gotkins Aussage vor dem Senat: U.S. Senate, Committee on the Judiciary, Subcommittee to Investigate Juvenile Delinquency, Drugs in Institutions, 94th Cong., 1st sess., 1975, Readex depository 77-9118.↵ 25 | Hudson sagte persönlich vor dem Bayh Committee aus. Zitate von Daniel Eisenberg, Anil Fahini und Beth Guiros wurden vom Network Against Psychiatric Violence gesammelt und in das Protokoll der Anhörung aufgenommen.↵ 26 | J. Modrow, How to Become a Schizophrenic, Apollyon Press, 1992, pp. 194-195.↵ 27 | Interview mit Nathaniel Lehrman, 1. Oktober 2000.↵ 28 | R. Belmaker, D. Wald, Haloperidol in Normals, in British Journal of Psychiatry, 131, 1977, pp. 222-223.↵ 29 | M. Wallace, Schizophrenia – A National Emergency: Preliminary Observations on SANELINE, in „Acta Psychiatrica Scandinavica“, 89, suppl. 380, 1994, pp. 33-35.↵ 30 | Für Bayhs Kommentare, cf. Bd. 3, S. 2 von U.S. Senate, Committee on the Judiciary, Subcommittee to Investigate Juvenile Delinquency, Drugs in Institutions, 94th Cong, 1st sess, 1975.↵ 31 | N. Schooler, One Year After Discharge: Community Adjustment of Schizophrenic Patients, in „American Journal of Psychiatry“, 123, 1967, pp. 986-995.↵ 32 | R. Prien, Discontinuation of Chemotherapy for Chronic Schizophrenics, in „Hospital and Community Psychiatry“, 22, 1971, pp. 20-23.↵ 33 | G. Gardos, Maintenance Antipsychotic Therapy: Is the Cure Worse Than the Disease? in American Journal of Psychiatry, 133, 1976, S. 32-36; W. Carpenter Jr, The Treatment of Acute Schizophrenia Without Drugs, in „American Journal of Psychiatry“, 134, 1977, pp. 14-20; G. Hogarty, Fluphenazine and Social Therapy in the Aftercare of Schizophrenic Patients, in „Archives of General Psychiatry“, 36, 1979, pp. 1283-1294; G. Gardos, Withdrawal Syndromes Associated with Antipsychotic Drugs, in „American Journal of Psychiatry“, 135, 1978, pp. 1321-1324.↵ 34 | Interview mit Sol Morris, Februar 2001 (Sol Morris ist ein vom Patienten verwendetes Pseudonym).↵ 35 | J.S. Bockoven, Comparison of Two Five-Year Follow-Up Studies: 1947 to 1952 and 1967 to 1972, in „American Journal of Psychiatry“, 132, 1975, pp. 796-801; W. Carpenter Jr., The Treatment of Acute Schizophrenia Without Drugs cit.; M. Rappaport, Are There Schizophrenics for Whom Drugs May Be Unnecessary or Contraindicated?, in „International Pharmacopsychiatry“, 13, 1978, pp. 100-111; S. Matthews, A Non-Neuroleptic Treatment for Schizophrenia, in „Schizophrenia Bulletin“, 5, 1979, pp. 322-332.↵ 36 | W. Carpenter Jr., The Treatment of Acute Schizophrenia Without Drugs cit.↵ 37 | G. Chouinard, Neuroleptic-Induced Supersensitivity Psychosis, in „American Journal of Psychiatry“, 135, 1978, pp. 1409-1410; Id., Neuroleptic-Induced Supersensitivity Psychosis: Clinical and Pharmacologic Characteristics, in „American Journal of Psychiatry“, 137, 1980, pp. 16-20. Das Zitat aus Jones‘ Vortrag auf der Tagung der Canadian Psychiatric Association 1979 stammt aus P. Breggin, Brain- Disabling Treatments in Psychiatry, Springer Publishing Company, 1997, S. 60.↵ 38 | J.S. Bockoven, Moral Treatment in American Psychiatry, Springer Publishing Company, 1972; N. Lehrman, A State Hospital Population Five Years After Admission, in „Psychiatric Quarterly“, 34, 1960, pp. 658-681; H.L. Rachlin, Follow-Up Study of 317 Patients Discharged from Hillside Hospital in 1950, in „Journal of Hillside Hospital“, 5, 1956, pp. 17-40; J.S. Bockoven, Comparison of Two Five-Year Follow-Up Studies cit.; W. Carpenter Jr., The Treatment of Acute Schizophrenia Without Drugs cit.; M. Rappaport, Are There Schizophrenics for Whom Drugs May Be Unnecessary or Contraindicated? cit.↵ 39 | J. Godwin Rabkin, Criminal Behavior of Discharged Mental Patients, in „Psychological Bulletin“, 86, 1979, pp. 1-27.↵ 40 | J.H. Abbott, In the Belly of the Beast. Lettere dalla prigione (1981), Mondadori, Mailand 1982, S. 50-51.↵ 41 | M.K. Shear, Suicide Associated with Akathisia and Depot Fluphenazine Treatment, in „Journal of Clinical Psychopharmacology“, 3, 1983, S. 235-236; T. van Putten, Phenothiazine-Induced Decompensation, in „Archives of General Psychiatry“, 30, 1974, S. 102-105; Id, The Many Faces of Akathisia, in „Comprehensive Psychiatry“, 16, 1975, S. 43-46; R. Drake, Suicide Attempts Associated with Akathisia, in „American Journal of Psychiatry“, 142, 1985, S. 499-501; T. van Putten, Behavioral Toxicity of Antipsychotic Drugs, in „Journal of Clinical Psychiatry“, 48, 1987, S. 13-19.↵ 42 | J. Schulte, Homicide and Suicide Associated with Akathisia and Haloperidol, in „American Journal of Forensic Psychiatry“, 6, 1985, S. 3-7; E. Shaw, A Case of Suicidal and Homicidal Ideation and Akathisia in a Double-Blind Neuroleptic Crossover Study, in „Journal of Clinical Psychopharmacology“, 6, 1986, S. 196-197; J. Herrera, High-Potency Neuroleptics and Violence in Schizophrenia, in „Journal of Nervous and Mental Disease“, 176, 1988, S. 558-561; T. van Putten, Behavioral Toxicity of Antipsychotic Drugs cit.; I. Galynker, Akathisia as Violence, in „Journal of Clinical Psychiatry“, 58, 1997, S. 31-32.↵ 43 | N. Schooler, Prevention of Relapse in Schizophrenia, in „Archives of General Psychiatry“, 37, 1980, S. 16-24.↵ 44 | T. van Putten, The Board and Care Home:Does It Deserve a Bad Press?, in „Hospital and Community Psychiatry“, 30, 1979, S. 461-464.↵ 45 | Zitiert in G. Crane, Tardive Dyskinesia in Patients Treated with Major Neuroleptics: A Review of the Literature, in „American Journal of Psychiatry“, 124, Suppl, 1968, pp. 40-47.↵ 46 | G. Crane, Clinical Psychopharmacology in Its 20th Year, in „Science“, 181, 1973, pp. 124-128; American Psychiatric Association, Tardive Dyskinesia: A Task Force Report, 1992.↵ 47 | S. Paulsen, Neuropsychological Impairment in Tardive Dyskinesia, in „Neuropsychology“, 8, 1994, S. 227-241; J. Waddington, Cognitive Dysfunction in Schizophrenia: Organic Vulnerability Factor or State Marker for Tardive Dyskinesia? in „Brain and Cognition“, 23, 1993, pp. 56-70; M. Myslobodsky, Central Determinants of Attention and Mood Disorder in Tardive Dyskinesia (‚Tardive Dysmentia‘), in „Brain and Cognition“, 23, 1993, pp. 88-101; R. Yassa, Functional Impairment in Tardive Dyskinesia, in „Acta Psychiatrica Scandinavica“, 80, 1989, pp. 64-67.↵ 48 | G. Tsai, Markers of Glutamergic Neurotransmission and Oxidative Stress Associated with Tardive Dyskinesia, in „American Journal of Psychiatry“, 155, 1998, pp. 1207-1213; C.T. Gualtieri, The Problem of Tardive Dyskinesia, in „Brain and Cognition“, 23, 1993, pp. 102-109; D.V. Jeste, Study of Neuropathologic Changes in the Striatrum Following 4, 8 and 12 Months of Treatment with Fluphenazine in Rats, in „Psychopharmacology“, 106, 1992, pp. 154-160.↵ 49 | M.H. Chakos, Increase in Caudate Nuclei Volumes of First-Episode Schizophrenic Patients Taking Antipsychotic Drugs, in „American Journal of Psychiatry“, 151, 1994, pp. 1430-1436; R. Gur, Subcortical MRI Volumes in Neuroleptic-Naïve and Treated Patients with Schizophrenia, in „American Journal of Psychiatry“, 155, 1998, pp. 1711-1717.↵ 50 | R. Gur, A Follow-Up Magnetic Resonance Imaging Study of Schizophrenia, in „Archives of General Psychiatry“, 55, 1998, pp. 145-152; A. Madsen, Neuroleptics in Progressive Structural Brain Abnormalities in Psychiatric Illness, in „Lancet“, 352, 1998, S. 784.↵ 51 | J. Waddington, Mortality in Schizophrenia, in „British Journal of Psychiatry“, 173, 1998, S. 325-329; L. Appleby, Sudden Unexplained Death in Psychiatric In-Patients, in „British Journal of Psychiatry“, 176, 2000, S. 405-406; J. Ballesteros, Tardive Dyskinesia Associated with Higher Mortality in Psychiatric Patients, in „Journal of Clinical Psychopharmacology“, 20, 2000, S. 188-194.↵

(Robert Whitaker – Mad in America – Kapitel 7)

Kapitel 8

Wie sollten wir also Schizophrenen helfen?

Die Antwort ist einfach: Hören Sie auf zu lügen!

John Modrow

1 Die Geschichte der Neuroleptika als Medikamente, die eine ähnliche Hirnpathologie wie die lethargische Enzephalitis und die Parkinson-Krankheit hervorrufen, lässt sich durch die Lektüre der Fachliteratur leicht nachvollziehen. Darin ist alles enthalten: die frühen Vergleiche mit den beiden Krankheiten, die biologische Erklärung für die schwere Beeinträchtigung der dopaminergen Übertragung durch Neuroleptika, die Bedeutung der dopaminergen Aktivität für die normale Gehirnfunktion und die ganze Reihe von Defiziten, sowohl kurz- als auch langfristig, die durch den von den Medikamenten ausgelösten pathologischen Prozess entstehen. Die amerikanische Psychiatrie war jedoch nicht bereit, diese Geschichte zu erzählen, weder sich selbst noch den Amerikanern, nachdem sie Anfang der 60er Jahre den Einsatz von Neuroleptika für wirksam und sicher befunden hatte. Das Land hatte all seine Hoffnungen in diese Medikamente gesetzt, und die Ärzte waren verständlicherweise bereit zu glauben, dass sie wirksam und zumindest bis zu einem gewissen Grad sicher waren. Um diesen Glauben aufrechtzuerhalten, bedurfte es jedoch kühner geistiger Verrenkungen und eines nicht unerheblichen Talents für Selbsttäuschung, schlechte Wissenschaft und letztlich Betrug.

8.1 …

8.2 | Sie verhindern Rückfälle, nicht wahr?

Die Dopaminhypothese war ein Teil des wissenschaftlichen Märchens, das seit den 1960er Jahren entwickelt wurde, um das Image der Neuroleptika als nützliche Medikamente zu erhalten. Ein zweiter Teil der Geschichte betraf den wiederholten Nachweis der Wirksamkeit von Psychopharmaka, und zwar in einem doppelten Sinne: Sie blockierten eine akute psychotische Episode und verringerten das Risiko eines Rückfalls erheblich. In seinem 1983 erschienenen Buch Surviving Schizophrenia (Überleben mit Schizophrenie) erklärte E. Fuller Torrey den Familien: „Es ist inzwischen erwiesen, dass antipsychotische Medikamente wirken. Sie lindern die Symptome der Krankheit, verkürzen die Dauer des Krankenhausaufenthalts und verringern die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls erheblich „9. Wie jedoch selbst die offizielle Psychiatrie in den 1990er Jahren indirekt zuzugeben begann, war diese Behauptung der Wirksamkeit auf einem wissenschaftlichen Kartenhaus aufgebaut. Wenn eine neue medizinische Behandlung auf den Markt kommt, wird sie in der Regel experimentell mit bereits vorhandenen Medikamenten (sowie mit Placebos) verglichen. Vor der Entdeckung der Neuroleptika wurden in den Anstalten seit langem Beruhigungsmittel verschiedener Art eingesetzt, um akute psychotische Episoden zu stoppen, und sie wurden regelmäßig als recht wirksam bezeichnet. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erschienen in medizinischen Fachzeitschriften mehrere Artikel, in denen die Vorteile von Opium, Barbituraten und Bromiden beschrieben wurden. Zu Beginn der 1980er Jahre hätte man erwartet, in der Fachliteratur zahlreiche Studien zu finden, die die Überlegenheit der Neuroleptika belegen. Als jedoch 1989 Paul Keck und andere Ärzte der Harvard Medical School die Literatur auf der Suche nach genauen Studien durchforsteten, die die Wirksamkeit von Neuroleptika und Sedativa über einen kontrollierten Zeitraum verglichen, fanden sie nur „zwei“. Und diese Studien ergaben, dass „beide Behandlungen ähnliche symptomatische Verbesserungen innerhalb der ersten Tage, vielleicht sogar Wochen, der Behandlung bewirkten „10. Diese Ergebnisse waren so beunruhigend für die allgemein akzeptierte Ansicht, dass ein schockierter Arzt schrieb: „Ist unser klinisches Urteil über die Wirksamkeit von Antipsychotika eine fixe und abgekapselte Wahnvorstellung gewesen […] müssen wir in der antipsychotischen Psychopharmakologie von vorne anfangen? Vierzig Jahre waren seit der Einführung der Neuroleptika vergangen, und es gab immer noch keine überzeugenden Beweise dafür, dass diese Medikamente Psychosen besser kontrollieren konnten als das antiquierte Opiumpulver*. Der zweite Teil der Frage nach der Wirksamkeit – verhindern Neuroleptika Rückfälle? – erscheint auf den ersten Blick recht verwirrend. Einerseits deuten die Studien von Bockoven, Carpenter, Rappaport und Mosher darauf hin, dass die Einnahme von Neuroleptika das Rückfallrisiko erhöht. Andererseits gibt es in der wissenschaftlichen Literatur eine große Zahl von Studien, die offenbar zum gegenteiligen Ergebnis kommen. Patricia Gilbert und ihre Kollegen von der University of California, San Diego, haben 1995 sechsundsechzig Rückfallstudien mit 4.365 Patienten ausgewertet und die empirischen Gesamtergebnisse wie folgt zusammengefasst: 53 % der Patienten, die die Einnahme von Neuroleptika abbrachen, erlitten innerhalb von zehn Monaten einen Rückfall, verglichen mit 16 % derjenigen, die die Medikamente weiter einnahmen. „Die Wirksamkeit dieser Medikamente bei der Verringerung des Risikos eines psychotischen Rückfalls ist gut dokumentiert“, so die Schlussfolgerung12. Es gibt jedoch eine Erklärung für dieses Rätsel, und zwar eine aufschlussreiche. Bockoven fand niedrige Rückfallquoten bei Patienten, die „nie“ mit Neuroleptika in Berührung gekommen waren. In ähnlicher Weise waren an den Studien von Rappaport, Mosher und Carpenter Patienten beteiligt, die zu Beginn des Experiments keine Neuroleptika einnahmen und später mit Neuroleptika oder Placebo behandelt wurden. Und in diesen Gruppen waren die Rückfallquoten niedriger als in der Placebogruppe. Bei den sechsundsechzig von Gilbert untersuchten Studien handelte es sich dagegen um Studien zum „Medikamentenentzug“. In diesen Studien wurden Patienten, die mit Neuroleptika stabilisiert worden waren, in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe hatte das Medikament weiter eingenommen, die andere nicht. Die Ergebnisse zeigten, dass die Patienten, die die Neuroleptika abgesetzt hatten, mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder krank wurden. Zusammengenommen deuten diese Studien also darauf hin, dass sich die Rückfallquoten in drei Gruppen einteilen lassen: niedriger bei Patienten, die noch nie Neuroleptika eingenommen haben, höher bei denen, die die Medikamente kontinuierlich einnehmen, und insgesamt höher bei denen, die die Einnahme beenden. Zu diesem Bild der Rückfälle sind jedoch noch weitere wichtige Beobachtungen zu machen. Die von Gilbert analysierten Studien waren so aufgebaut, dass der Unterschied zwischen den Rückfällen bei Patienten, die die Medikamente weiter einnahmen, und denen, die sie absetzten, stark übertrieben wurde. Erstens wurde den Patienten in zwei Dritteln der Studien ein „abruptes“ Absetzen der Neuroleptika – im Gegensatz zu einem allmählichen Absetzen – auferlegt, wodurch das Risiko eines Rückfalls stark erhöht wurde. Als Reaktion auf Gilberts Bericht analysierte Ross Baldessarini von der Harvard Medical School die sechsundsechzig Studien erneut, teilte jedoch die Kohorte der Patienten, die die Medikamente abgesetzt hatten, in zwei Gruppen ein, die „abrupte“ und die „allmähliche“ Absetzung. Er stellte fest, dass die Rückfallquote in der Gruppe mit abruptem Entzug „dreimal höher“ war als in der Gruppe mit allmählichem Entzug. Mit anderen Worten: Die hohe Rückfallquote von 53 %, die Gilbert in der Gruppe der abgesetzten Patienten feststellte, war größtenteils auf das experimentelle Design der sechsundsechzig Studien zurückzuführen. In einer anschließenden Überprüfung der Rückfallliteratur stellten Baldessarini und seine Harvard-Kollegen fest, dass weniger als 35 % der schizophrenen Patienten, die ihre Medikation schrittweise reduziert hatten, innerhalb von sechs Monaten einen Rückfall erlitten, und dass diejenigen, die innerhalb desselben Zeitraums keinen Rückfall erlitten hatten, eine gute Chance hatten, auf Dauer gesund zu bleiben. Die Harvard-Forscher kamen zu dem Schluss, dass das Risiko eines Rückfalls im letzteren Fall [nach sechs Monaten] stark reduziert war, und lieferten auch eine biologische Erklärung für dieses Phänomen. Sobald die Medikamente das System verlassen, so die Forscher, kann sich die Dichte der D2-Rezeptoren im Gehirn wieder normalisieren, und wenn dies geschieht, sinkt das Rückfallrisiko und kehrt auf ein Niveau zurück, das „den natürlichen Verlauf der unbehandelten Schizophrenie genauer widerspiegeln könnte“. Die sechsundsechzig Rückfallstudien hatten noch einen zweiten Makel: Die niedrige Rückfallquote, die bei den Patienten, die die Medikamente einnahmen, festgestellt wurde – 16 % über einen Zeitraum von einem Jahr – kann auch als Artefakt des Versuchsdesigns betrachtet werden. In der klinischen Praxis gibt es bis zu 30 % der Patienten, die nicht auf Neuroleptika ansprechen. Von denjenigen, die auf Neuroleptika ansprechen und entlassen werden, erleiden mehr als ein Drittel in den folgenden zwölf Monaten einen Rückfall und müssen erneut stationär aufgenommen werden, selbst wenn sie die medikamentöse Therapie regelmäßig einnehmen. Insgesamt sprechen also weniger als 50 % der Menschen, die einen schizophrenen Zusammenbruch erleiden, auf Standard-Neuroleptika an und erleiden im Jahr nach der Entlassung keinen Rückfall. Rückfallstudien wurden größtenteils an dieser ausgewählten Gruppe von Patienten mit gutem Ansprechen durchgeführt. Diese Gruppe von Patienten wurde in diejenigen unterteilt, die die Medikamente weiter einnahmen, und diejenigen, die sie absetzten, und es war offensichtlich zu erwarten, dass die Rückfallraten der Ersteren niedrig sein würden. 1998 wies Gerard Hogarty von der Universität Pittsburgh darauf hin, wie irreführend diese Rückfallquote in Bezug auf die Patienten war, die die Medikamente regelmäßig einnahmen: „Eine Überprüfung der Literatur deutet darauf hin, dass die Rückfallquote innerhalb eines Jahres nach der Entlassung bei Patienten, die sich in Behandlung befinden, bei 40 Prozent liegt, und dass die Quote bei Patienten, die in einem stressigen Umfeld leben, viel höher ist als die bisherige Schätzung von 16 Prozent. Insgesamt waren die sechsundsechzig Rückfallstudien so verzerrt, dass sie ein völlig falsches Bild von den Vorzügen der Neuroleptika vermittelten. Die Studien hatten nur die Ergebnisse von Patienten verglichen, die mit den Medikamenten behandelt wurden (ohne diejenigen zu berücksichtigen, die sie nie eingenommen hatten), und selbst innerhalb dieser Gruppe hatten sie ein irreführendes Bild ergeben. Die Rückfallquote der Patienten, die die Medikamente abgesetzt hatten, wurde durch die Tatsache, dass die Patienten die Medikamente abrupt absetzen mussten, künstlich erhöht, während die Rückfallquote der mit den Medikamenten behandelten Gruppe durch die Tatsache, dass Patienten ausgewählt wurden, die bereits eine gute Toleranz gegenüber den Medikamenten gezeigt hatten, künstlich verringert wurde. Die absolute Irrelevanz dieser Studien für die reale Behandlung zeigt sich an den Wiedereinweisungsraten. Einer Schätzung zufolge wurden mehr als 80 % der 257 446 Schizophrenie-Patienten, die 1986 aus den Krankenhäusern entlassen wurden, innerhalb der nächsten zwei Jahre erneut in ein Krankenhaus eingewiesen, eine wesentlich höhere Wiedereinweisungsrate als bei Patienten, die nie mit Medikamenten behandelt wurden, oder – wie aus den obigen Daten hervorgeht – als bei Patienten, die Neuroleptika schrittweise abgesetzt hatten15. Die in den medizinischen Fachzeitschriften angepriesene Rückfallquote von 16 % war eine nützliche Zahl für die Wirksamkeitsfiktion, mit der man zur Unterstützung der Neuroleptika hausieren ging, aber es handelte sich um eine Statistik, die aus der Wissenschaft der schlimmsten Sorte stammte, und sie führte die Öffentlichkeit völlig in die Irre, was mit den Patienten unter Drogeneinfluss wirklich geschah.

. 8.3 | Sie schaden nicht

Der dritte Meilenstein in der Geschichte, die wir erzählt haben, ist die Überzeugung, dass Neuroleptika relativ sicher sind. Im Jahr 1964 stellte das NIMH ausdrücklich fest, dass die Nebenwirkungen der Medikamente „leicht und selten sind […], eher eine Frage des Patientenkomforts als der medizinischen Sicherheit. Torrey wiederholte diesen Punkt sogar in seinem Buch von 1983 und versicherte den Familien, dass „Antipsychotika zu den sichersten bekannten Medikamenten gehören „16. Es erwies sich jedoch als besonders schwierig, diesen Teil der Geschichte fast vierzig Jahre lang aufrechtzuerhalten. Die FDA und die amerikanische Psychiatrie mussten so lange wie möglich die Augen vor den Beweisen verschließen, dass die Medikamente häufig Spätdyskinesien und manchmal eine tödliche toxische Reaktion, das so genannte neuroleptische maligne Syndrom, verursachten. Von Anfang an bestand der begründete Verdacht, dass Neuroleptika langfristige Schäden verursachen würden. In den 1930er Jahren waren die Phenothiazine der ersten Generation als Insektizide in der Landwirtschaft und gegen parasitäre Würmer bei Schweinen eingesetzt worden. Dies war ihre präklinische Geschichte: Verwendung als Giftstoffe für Insekten und Parasiten. Französische Chemiker hatten dann Chlorpromazin für den Einsatz als Anästhetikum für das Nervensystem in der Chirurgie entwickelt. Als Chlorpromazin an psychisch Kranken getestet wurde, stellte man fest, dass es ähnliche Symptome wie die Parkinson-Krankheit und eine lethargische Enzephalitis hervorrief. Nach dem Erfolg von Smith, Kline & French mit Chlorpromazin brachten andere Pharmaunternehmen neue und stärkere Neuroleptika auf den Markt, wobei sie Verbindungen auswählten, die bei Tieren Katalepsie – das Fehlen spontaner Bewegungen – hervorriefen. Diese Wirkstoffe waren „per definitionem“ neurotoxisch. Im Jahr 1959 wurde dann der erste Bericht veröffentlicht, der Neuroleptika mit irreversiblen motorischen Störungen in Verbindung brachte. Diese Nebenwirkung wurde im folgenden Jahr als Spätdyskinesie bezeichnet, und im Laufe des nächsten Jahrzehnts wurde in neun Studien festgestellt, dass mehr als 10 % der Patienten davon betroffen waren, und eine Studie deutete darauf hin, dass bis zu 40 % der Patienten, die das Medikament dauerhaft einnahmen, davon betroffen sein könnten17. Und dennoch hatte niemand die psychisch Kranken vor diesem Risiko gewarnt. Die FDA warnt die Öffentlichkeit vor den Risiken von Arzneimitteln, indem sie die Pharmaunternehmen verpflichtet, diese auf dem Etikett anzugeben. Selbst eine Nebenwirkung, die nur in 1 % der Fälle auftritt, gilt als häufig und muss gemeldet werden. Nach diesen Maßstäben war die tardive Dyskinesie eine sehr häufige Erkrankung, und dennoch verlangte die FDA in den 1960er Jahren nicht von den Arzneimittelherstellern, die Öffentlichkeit zu warnen. Auf dem Etikett von Arzneimitteln wurde in der Regel in einem einzigen Satz auf mögliche dauerhafte neurologische Nebenwirkungen hingewiesen, die tardive Dyskinesie jedoch nicht erwähnt, und das Problem wurde – trotz wissenschaftlicher Artikel, wonach bis zu 40 % der Patienten davon betroffen sein könnten – als ungewöhnlich abgetan. 1968 veröffentlichte ein NIMH-Wissenschaftler, George Crane, einen Bericht über Spätdyskinesien im American Journal of Psychiatry, einer weit verbreiteten Fachzeitschrift, und noch immer läuteten bei der FDA keine Alarmglocken. Schließlich forderte die FDA 1972 – dreizehn Jahre nach Erscheinen des ersten Berichts über Spätdyskinesien in der Literatur – die Pharmaunternehmen auf, ihre Kennzeichnungen zu aktualisieren. Die Psychiatrie als Berufsstand zeigte sich ähnlich zögerlich, das Problem anzuerkennen. In den frühen 1970er Jahren begann Crane eine Art Kreuzzug, um seine Kollegen auf das Problem aufmerksam zu machen. Er schrieb mehrmals über tardive Dyskinesie, aber jedes Mal reagierten seine Kollegen mit dem Hinweis, er mache aus einer Mücke einen Elefanten. Tardive Dyskinesie, schrieb Nathan Kline 1968, sei eine „seltene Nebenwirkung ohne große klinische Bedeutung“. Der Bostoner Psychiater Jonathan Cole nannte Crane eine „Kassandra der Psychiatrie“, die unnötigerweise „für viele Elemente unseres derzeitigen klinischen und wissenschaftlichen Betriebs ein negatives Schicksal vorhersagte“. 1973, nachdem die FDA endlich begonnen hatte, ihren Kurs zu ändern, behauptete der Arzt John Curran aus Minnesota, dass Cranes Warnung „nicht nur verfrüht, sondern auch irreführend“ sei, und argumentierte, dass, selbst wenn die Medikamente Hirnschäden verursachten, dies kein Grund sei, sich unnötig Sorgen zu machen: „Es stimmt zwar, dass eine Psychose in eine Spontanremission übergehen kann, aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie man eine Behandlung mit nachgewiesener Wirksamkeit aus Angst vor der Verursachung oder Verschlimmerung angeblicher Hirnschäden ablehnen kann. Andere führten die DT auf Hirnschäden durch frühere Therapien zurück, insbesondere Lobotomie und Elektroschocks, oder schrieben sie der Pathologie selbst zu. Dies veranlasste Crane zu folgender Antwort: „Die Mehrheit der Kliniker ignoriert nach wie vor die Existenz dieser Komplikation […] Die Vernachlässigung eines ernsten Gesundheitsproblems über so viele Jahre hinweg hat eine tiefere Wurzel als bloße Unkenntnis der Fakten. Die tiefere Wurzel war natürlich das Geld. Die pharmazeutischen Unternehmen hatten offensichtliche Gründe, das Image des sicheren Medikaments zu schützen, das Neuroleptika genossen. Die Medikamente waren zu einem Goldesel geworden, und die Pharmaunternehmen verkauften sie auch für nicht psychiatrische Zwecke. Um 1970 wurden Neuroleptika für über 50 % der amerikanischen Kinder mit geistiger Behinderung verschrieben. Das Gleiche galt für ältere Menschen in Pflegeheimen. Jugendlichen Straftätern wurden Neuroleptika so regelmäßig verabreicht, dass sie von ihnen als „Zombiesäfte“ bezeichnet wurden. Insgesamt wurden jedes Jahr 19 Millionen Rezepte ausgestellt19. Hätte man der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass diese Medikamente häufig irreversible Hirnschäden verursachen, hätte man riskiert, den ganzen Zug zum Kippen zu bringen. Die Gründe, warum die Psychiater die Augen vor der Spätdyskinesie verschlossen haben, sind etwas komplexer. Die Verschreibung eines Medikaments ist das bestimmende Ritual der modernen Medizin, und so brauchte die Psychiatrie, die sich als medizinische Disziplin präsentieren wollte, ein „sicheres und wirksames“ Medikament gegen Schizophrenie. Außerdem konkurrierten die Psychiater mit den Psychologen um die Patienten, und ihr einziger Wettbewerbsvorteil bestand darin, dass sie als Ärzte Medikamente verschreiben konnten, während die Psychologen dies nicht konnten. Es wäre für sie schwierig gewesen, eine therapeutische Überlegenheit zu behaupten, wenn ihre Neuroleptika nicht nur unwirksam waren, sondern auch das Gehirn schädigten. Schließlich befand sich die gesamte Psychiatrie zu Beginn der 1970er Jahre in einem Transformationsprozess, der mit dem Einfluss des Geldes der Pharmaunternehmen zusammenhing. Die pharmakologisch orientierten Psychiater verdienten viel mehr als diejenigen, die sich hauptsächlich auf die Psychotherapie verließen (sie verschrieben seltener ein Medikament als eine verbale Therapie); die Pharmareferenten, die in ihre Praxen kamen, verwöhnten sie oft mit kleinen Geschenken (Abendessen, Eintrittskarten für Shows und dergleichen); und ihre Gewerkschaftsorganisation, die APA, war finanziell immer stärker von den Pharmaunternehmen abhängig geworden. Dreißig Prozent des Jahresbudgets der APA stammten aus der Werbung für Medikamente in ihren Zeitschriften, und sie war auch auf Zuschüsse der Industrie angewiesen, um ihre Schulungsprogramme zu finanzieren. „Wir haben eine sehr herzliche und etwas spontane Beziehung zu den Pharmaunternehmen aufgebaut, indem wir bereitwillig ihr Geld angenommen haben“, gestand ein APA-Funktionär, Fred Gottlieb, ein paar Jahre später. „Wir ignorieren nach wie vor, dass es einen inhärenten Interessenkonflikt gibt „20. Kurz gesagt, Pharmaunternehmen, Psychiater und die APA hatten die gleichen Interessen, und wenn man der Spätdyskinesie zu viel Aufmerksamkeit schenkte, konnte das gesamte Gebäude, das auf Neuroleptika aufgebaut war, in die Luft fliegen. Als der Alarm ertönte, hatte Crane nie behauptet, dass er die Absetzung von Neuroleptika forderte. Er wollte lediglich, dass die APA eine groß angelegte Aufklärungskampagne startet, um die Ärzte darüber zu informieren, wie sie am besten mit den damit verbundenen Risiken umgehen können. Die Verschreibung niedrigerer Dosen hätte die möglichen Komplikationen erheblich reduziert. Eine frühzeitige Diagnose der DT und eine angemessene therapeutische Reaktion – das Absetzen des Medikaments – hätten die Schäden ebenfalls minimieren können. In Ermangelung einer solchen Aufklärung reagierten die Ärzte jedoch routinemäßig auf Spätdyskinesien, indem sie die Dosis „erhöhten“ (dies hätte das motorische System so stark gehemmt, dass selbst ruckartige Bewegungen etwas nachgelassen hätten). Es bestand ein offensichtlicher und dringender medizinischer Notfall, der, wenn er behoben worden wäre, Hunderttausenden von Amerikanern pharmakologisch bedingte Hirnschäden erspart hätte. Die Verteilung von Informationsmaterial an alle Ärzte ist unerlässlich“, sagte Crane 197321. Und als Antwort darauf hat die APA … ausweichend. Daniel Freedman, Direktor der Archives of General Psychiatry, schrieb verärgert, dass Psychiater bereits über „eine große Menge an Daten und Richtlinien verfügten, um fundierte Urteile zu fällen“. Jahre vergingen, und die APA unternahm keine Anstrengungen, ihre Mitglieder zu informieren. Die Zahl der Amerikaner, die von dieser oft irreversiblen Hirnstörung betroffen waren, wuchs mit einer Rate von mehr als 250 Personen „pro Tag“, und die APA unternahm nichts23. Schließlich veröffentlichte die APA 1979 den Bericht einer Arbeitsgruppe zu diesem Problem… und hielt sich dann noch eine Weile zurück. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis sie ein Schreiben an ihre Mitglieder verschickte, und diese Informationskampagne wurde erst nach mehreren öffentlichkeitswirksamen Zivilprozessen eingeleitet, in denen Psychiater (und andere Einrichtungen) wegen Fahrlässigkeit verurteilt worden waren, weil sie ihre Patienten nicht vor dem Risiko gewarnt hatten, wobei sich die Entschädigung in einem Fall auf 3 Millionen Dollar belief. Die APA schrieb daher in ihrem Warnschreiben:“Wir sind auch besorgt über die offensichtliche Zunahme von Klagen wegen tardiver Dyskinesien „24. Das Geld oder die Angst, es zu verlieren, hatte die APA endlich in die richtige Stimmung versetzt, um Aufklärungsziele zu verfolgen. Diese Ausflucht ist offensichtlich ein Zeichen für eine beunruhigende Gleichgültigkeit gegenüber psychisch Kranken. Das Erstaunlichste ist jedoch, dass die Informationsinitiativen, die schließlich gestartet wurden, nicht viel bewirkten. Crane hielt in einem bekannten Krankenhaus einen Vortrag über die Notwendigkeit, niedrigere Dosen zu verschreiben, und kehrte sechs Monate später dorthin zurück, um zu sehen, ob sich etwas geändert hatte. Aber es hatte sich nichts geändert. „Die Auswirkungen meiner Aufklärungsbemühungen auf die Verschreibungsgewohnheiten der Ärzte waren gleich null“, berichtete er bitter25. Auch die staatlichen Gesetze, die Ärzte verpflichten, ihre Patienten über die Risiken aufzuklären, hatten keine Wirkung. Mehr als fünfundzwanzig Staaten hatten bis Anfang der 1980er Jahre solche Gesetze erlassen, Gesetze, die implizit die amerikanische Psychiatrie dafür verurteilten, dass sie nicht in der Lage war, diese Pflicht aus eigener Kraft zu erfüllen; und dennoch ergab eine nationale Untersuchung bald, dass die Aufklärungsrate in Staaten, in denen eine Informationspflicht bestand, sogar noch niedriger war26. 1984 fasste Thomas Gualtieri, Arzt an der Universität von North Carolina, die traurige Geschichte wie folgt zusammen: „Ein Rückblick auf die Geschichte der DTs zeigt nichts deutlicher als die folgende beunruhigende Tatsache: Die seit 1957 veröffentlichten Leitlinien, die wissenschaftlichen Artikel, die Vorträge auf Fachkongressen und die drakonischen Warnungen der Physicians Desk Reference scheinen wenig oder gar keine Auswirkungen auf das tatsächliche Verhalten der Ärzte in Bezug auf Neuroleptika gehabt zu haben „27. Die tragischen Folgen dieser Vogel-Strauß-Haltung sind nie in Zahlen ausgedrückt worden. Mantosh Dewan vom State University of New York Health Science Center in Syracuse schätzte, dass in den 80er Jahren mehr als 90.000 Amerikaner „jedes Jahr irreversible DTs entwickelten „28. Und die Blindheit gegenüber DTs war nur ein Teil der allgemeinen Abstumpfung der amerikanischen Psychiatrie gegenüber den neurologischen Problemen, die durch Neuroleptika ausgelöst werden können. Akathisie, Akinesie, Parkinson, all diese Störungen wurden nicht diagnostiziert. Eine Studie von 1987 ergab, dass Akathisie in 75 % der Fälle von den Ärzten nicht erkannt wurde. Die jahrzehntelange Nichtentdeckung einer Nebenwirkung, des so genannten neuroleptischen malignen Syndroms, hat zu Tausenden von unnötigen Todesfällen geführt. Diese toxische Reaktion auf Neuroleptika, die sich in der Regel innerhalb der ersten zwei Wochen nach der Einnahme des Medikaments entwickelt, wurde erstmals 1960 von französischen Ärzten beschrieben. Die geschätzte Häufigkeit liegt zwischen 0,2 % und 1,4 %. Die Patienten entwickeln starkes Fieber und sind oft verwirrt, unruhig und extrem steif. Der Tod kann sehr schnell eintreten. In den USA wurde dem neuroleptischen malignen Syndrom jedoch bis Anfang der 1980er Jahre keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Kosten dieser Vernachlässigung zeigen sich drastisch, wenn man die Sterblichkeitsraten vor und nach 1980 vergleicht: Sobald das Problem berücksichtigt wurde, stiegen sie von 22 % auf 4 %. Obwohl kein Forscher die unnötigen Todesfälle berechnet hat, geht eine grobe Schätzung davon aus, dass zwischen 1960 und 1980 100.000 Amerikaner am neuroleptischen malignen Syndrom starben, von denen 80.000 überlebt hätten, wenn die Ärzte vor dieser Nebenwirkung gewarnt worden wären.29 8.4 | Nur in Amerika Obwohl Neuroleptika in allen Industrieländern zur Standardbehandlung geworden sind, haben europäische Ärzte die Idee, dass sie „wie Insulin für Diabetes“ sind, nie – oder nicht so enthusiastisch – aufgegriffen. Der französische Pionier in der Anwendung von Neuroleptika, Pierre Deniker, sprach 1985 in einer Rede in Quebec City über die Art und Weise, wie die amerikanische Psychiatrie von außen betrachtet wurde. Zunächst, so erinnerte er sich, hatten er und Delay den Begriff Neuroleptika geprägt, der die Amerikaner „entsetzte“, weil er ein Medikament bezeichnete, das das zentrale Nervensystem nach Art einer chemischen Zwangsbehandlung zwangsweise beeinflusste. Die Amerikaner bevorzugten den viel neutraleren Ausdruck „Tranquillizer“. Doch dann hätten die Amerikaner das Image der Medikamente wieder von Tranquilizern in „Antipsychotika“ geändert, und das, so Deniker, sei vielleicht „zu weit gegangen“. Neuroleptika könnten zwar einige der Symptome der Schizophrenie lindern, aber sie „beanspruchen“ nicht, eine bekannte organische Krankheit zu behandeln.30 Die Unterschiede in den Ansichten seien nicht immer die gleichen, stellte er fest. Die Unterschiede in den Ansichten, so Deniker, gingen auch mit Unterschieden in der Verschreibungspraxis einher. Die Europäer, die die Medikamente als „Neuroleptika“ betrachteten, hatten von Anfang an niedrige Dosierungen verschrieben, um die schädlichen Nebenwirkungen zu minimieren. Nach ihren ersten Versuchen mit Chlorpromazin stellten Deniker und Delay fest, dass die optimale Dosis bei 100 Milligramm pro Tag lag. Britische Psychiater experimentierten mit einer höheren Dosis von 300 Milligramm, stellten jedoch fest, dass diese zu viele unerwünschte Wirkungen hervorrief. Umgekehrt trieben frühe amerikanische Forscher, die Chlorpromazin erprobten, die Dosierung schnell weit nach oben, bis John Vernon Ross-Wright von der Baylor University 1955 seinen Kollegen berichtete, dass er seinen Patienten 4.000 Milligramm pro Tag mit guten Ergebnissen verabreicht hatte. Diese hohe Dosis, so sagte er, „sparte Zeit“ bei der Stabilisierung der Patienten und ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Andere prominente amerikanische Psychiater schlossen sich seinen Worten an. Sie sagten, dass Patienten, die 5.000 Milligramm pro Tag einnehmen, „perfekt funktionieren“. Wenn Sie Zweifel an der Thorazin-Dosierung haben“, schlug ein Psychiater vor, „erhöhen Sie die Dosis, anstatt sie zu verringern“. 1960 fasste Nathan Kline aus New York seine allgemeine Faustregel wie folgt zusammen: „Massive Dosen über längere Zeiträume sind für eine erfolgreiche Behandlung unerlässlich „31. Der nächste Schritt auf dieser Dosierungsskala erfolgte in den 1960er Jahren, als Prolixin (Fluphenazin) und Haldol (Haloperidol) auf den Markt kamen. Diese von den Pharmaunternehmen Squibb und Janssen entwickelten Medikamente waren fünfzigmal stärker als Chlorpromazin. Squibbs injizierbare Formulierung von Fluphenazin blockierte die dopaminergen Bahnen so schnell, dass die Ärzte es „Instant-Parkinson“ tauften. Wie nicht anders zu erwarten war, verursachten beide Medikamente häufig schwere Nebenwirkungen, und dennoch widmete sich die amerikanische Psychiatrie ganz ihnen. In den 1980er Jahren nahmen mehr als 85 % der Schizophrenen in den USA diese hochwirksamen Neuroleptika ein. Im gleichen Zeitraum erhöhten die amerikanischen Psychiater auch die Dosierungen drastisch. Von 1973 bis 1985 verdoppelte sich die durchschnittliche Tagesdosis. Mitte der 1980er Jahre wurden Patienten routinemäßig mit Tagesdosen von Fluphenazin und Haloperidol entlassen, die 1.500 Milligramm Chlorpromazin entsprachen (das Fünffache dessen, was britische Ärzte ursprünglich als problematisch bezeichnet hatten). Außerdem waren es eher Psychiater als Nicht-Psychiater, die die höheren Dosen verschrieben. Bis in die 1970er Jahre hatten beide Gruppen Neuroleptika in etwa gleichen Dosen verschrieben. Doch dann, innerhalb eines Jahrzehnts, als das Risiko von Spätdyskinesien deutlich wurde, begannen die Verschreibungspraktiken der beiden Gruppen zu divergieren. Die Nicht-Psychiater senkten die Dosis, während die Psychiater sie „erhöhten“. Bis 1985 verschrieben amerikanische Psychiater Neuroleptika in einer Dosierung, die viermal höher war als die von Nicht-Psychiatern verschriebene32. Solche Dosierungen, so Deniker auf der Konferenz in Quebec City, „sind aus unserer Sicht [als Europäer] sehr hoch. Die Verschreibungsgewohnheiten der Amerikaner erscheinen bizarr, bis man sich an die „wissenschaftliche“ Geschichte erinnert, die über Neuroleptika erzählt wird. Das waren Medikamente gegen Schizophrenie, die Rückfälle verhinderten. Hohe Dosierungen – soweit die Medikamente vertragen wurden – führten schneller zu diesem Ergebnis. Wie Torrey 1983 den Familien versicherte, waren die stärkeren Medikamente „besser“. Tatsächlich kamen Forscher der Universität Pittsburgh, die das Thema untersuchten, zu dem Schluss, dass amerikanische Psychiater solche Praktiken häufig anwenden, um Kritik zu vermeiden. Indem der Psychiater ein starkes, hochdosiertes Medikament gegen Schizophrenie verschrieb, konnte er von der Familie des Patienten als jemand angesehen werden, der „alles Mögliche“ tat, um zu helfen34. Wie üblich waren es jedoch die Patienten, die die Hauptlast dieser Täuschung trugen. Die Schäden, die durch hohe Dosierungen verursacht werden, wurden durch eine ganze Reihe von Studien belegt. Beim Vergleich von hochdosierten mit niedrigdosierten Medikamenten zeigte sich, dass hochdosierte Patienten häufiger unter Depressionen, Angstzuständen, Bewegungsverzögerungen, emotionalem Rückzug und Akathisie litten. Das Auftreten von Dystonien – schmerzhaften, anhaltenden Muskelkrämpfen – nahm zu. Hohe Dosen verhinderten zwar Rückfälle, aber wenn diese Patienten tatsächlich einen Rückfall erlitten, ging es ihnen oft schlechter als zuvor. Hohe Dosen von Fluphenazin wurden mit einem erhöhten Selbstmordrisiko in Verbindung gebracht. Selbst mäßig hohe Dosen von Haloperidol wurden mit gewalttätigem Verhalten in Verbindung gebracht. Van Putten stellte fest, dass Patienten, die eine Tagesdosis von 20 Milligramm Haldol einnahmen – eine Standarddosis in den 1980er Jahren – regelmäßig unter „schwerer bis mäßiger“ Akathisie litten und in der zweiten Woche eine „erhebliche Verschlechterung“ des Gehens und der Fähigkeit, auf Reize zu reagieren, zeigten. Van Putten kam zu dem Schluss, dass diese Dosierung von Haldol für viele Patienten „psychotoxisch „35 war.Was die Spätdyskinesien betrifft, so wurden sie bei amerikanischen Patienten zu einem weit verbreiteten Problem, während sie in Europa, wie Deniker feststellte, „zwar bekannt sind, aber in Bezug auf Schwere und Qualität nicht die gleiche Bedeutung haben „36. Setzt man alle dokumentarischen Daten in diesem Puzzle zusammen, kommt man zu einer traurigen Wahrheit. Die Neuroleptika, die der Öffentlichkeit als Medikamente angepriesen wurden, die den Dopaminspiegel so „verändern“, dass sie „viele Patienten von den schrecklichen Folgen der Geisteskrankheit befreien“, lösten in Wirklichkeit eine Pathologie aus, die der Enzephalitis lethargica ähnelt. Und amerikanische Psychiater verschrieben diese Medikamente über dreißig Jahre lang in toxischen Dosen.

Einige Gründe für die Entscheidung, eine italienische Ausgabe vorzuschlagen. Der erste dieser Gründe ist mein Engagement für die volle Legitimität von positiven Erwartungen bei schweren psychischen Störungen. Dieses Engagement hat sich in verschiedenen Initiativen niedergeschlagen, darunter die Veröffentlichung eines Artikels mit dem Titel „Evidence Based Hope“, den ich zusammen mit einer Person, Lia Govers, geschrieben habe, die die persönliche Erfahrung der Schizophrenie gemacht hat, um eine vollständige Genesung zu erreichen. … Was mir auffiel … ist, dass Frau Lia schrieb, sich nach der Suspendierung viel präsenter fühlte und viel besser in der Lage war, am psychotherapeutischen Dialog teilzunehmen, bei dem sie bis dahin eher passiv und ‚zu betäubt‘ war. Nach der Suspendierung habe sie wieder angefangen zu träumen und sich an ihre Träume zu erinnern…. Der letzte Grund, der mich dazu veranlasst hat, dieses Buch zu veröffentlichen, hängt mit meiner Erfahrung als Forscher zusammen, die mir die Möglichkeit gegeben hat, zu verstehen, was – methodologisch gesehen – die wesentlichen Bestandteile einer qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Forschung sind… Ich hatte die Gelegenheit, mich darin zu üben, die wissenschaftliche Qualität von Studien zu bewerten und zu kommentieren, die in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, von denen ich einige als Gutachter (referee) betreue. Dank dieser Ausbildung war ich in den letzten Jahren mit der Bewertung der Artikel betraut, die die Grundlage für die Anträge auf Marktzulassung neuer Antipsychotika bei den internationalen Zulassungsbehörden bildeten. Ich war buchstäblich erstaunt, wie schlecht die inhaltliche Qualität der meisten dieser Artikel war, die jedoch von hervorragender formaler Qualität sind (da sie von Unternehmen erstellt wurden, die auf die Erstellung von Artikeln von guter formaler Qualität spezialisiert sind). Ich hatte auch die Gelegenheit, eine kurze Artikelserie über die eklatantesten methodischen Verzerrungen zu verfassen, die dem Versuch zugrunde liegen, Wirksamkeitsnachweise für diese neuen Medikamente zu „schaffen“, die exorbitante Kosten verursachen. Whitaker erzählt in seinem Vorwort, dass sein Interesse an der Psychiatrie geweckt wurde, als er für den Boston Globe eine Reihe von Artikeln über die unethischen Strategien in der Psychiatrie verfasste. Eine dieser methodischen Entscheidungen, die unter allen Gesichtspunkten höchst fragwürdig ist, wurde mehrfach in klinischen Studien zu den neuesten Antipsychotika angewandt. Sie besteht darin, eine anfängliche Stichprobe von 500 Patienten zu bilden (dies ist eine Zufallszahl), denen das zu bewertende Antipsychotikum verabreicht wird; nach ein bis zwei Wochen bleiben nur 400 übrig (weil 100 das Medikament abgesetzt haben oder unerwünschte Wirkungen aufgetreten sind); diese 400 gelten als die Stichprobe, deren endgültige Ergebnisse vorgelegt werden sollen; alle vierhundert setzen die Behandlung einige Wochen lang fort, bis eine Stabilisierung des klinischen Bildes erreicht ist; zu diesem Zeitpunkt setzen 200 die ursprüngliche medikamentöse Behandlung fort, während die anderen 200 das Medikament abrupt in wenigen Tagen erhalten. Das abrupte Absetzen ist – wie seit langem bekannt – die Form des Absetzens, die zu den meisten Rückfällen führt; die Gruppe, bei der das Medikament abrupt abgesetzt wird, wird an dieser Stelle als „Placebo-Gruppe“ bezeichnet. Die Ergebnisse werden berechnet, indem man die Anzahl der Rückfälle in der Gruppe, die das Medikament fortgesetzt hat, mit der Anzahl der Rückfälle in der Gruppe vergleicht, bei der das Medikament abrupt abgesetzt wurde; die „wissenschaftliche“ Schlussfolgerung ist, dass das bewertete Medikament wirksam ist, um Rückfälle zu verhindern. Die Vertreter des Unternehmens bringen den Ärzten eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Studie in italienischer Sprache, wobei sie oft den Teil über die Methodik der Studie weglassen, der so langweilig ist, dass ihn niemand liest. Es scheint, dass diejenigen, die einige Wochen später beschließen, das betreffende Medikament in die Arzneimittelliste des Unternehmens aufzunehmen, diese Zusammenfassung ebenfalls nicht lesen.

Aus den Vorwort zu italienischer Übersetzung von Robert Whitakers Buch Anatomy of an epidemic, Giuseppe Tibaldi, Psychiater.